Ein Leben im Russland Stalins

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Rote Kreuze
Sasha Filipenko
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
erschienen am 26.02.2020 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07124-5

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Dieser Roman ist ganz sicher wichtig. Es ist gut, dass er geschrieben und veröffentlicht wurde und er findet hoffentlich viele Leser. Sasha Filipenko, Jahrgang 1984, arbeitet darin die Stalin-Ära auf, vom Umgang mit den eigenen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, über die Säuberungswellen danach bis zu den Nachwirkungen auf die heutige Generation. Er schreibt anhand eines Fallbeispiels über auseinander gerissene Familien, Arbeitslager, Kinderheime, über Terror, Angst und verlorene Leben.
Tatjana Alexejewna ist eine über neunzigjährige Dame, die noch einmal ihr Leben erzählen möchte, bevor die Alzheimer-Erkrankung ihr die Erinnerungen nimmt. Und so nötigt sie ihrem jungen neuen Nachbarn die Gespräche geradezu auf. Dessen anfängliche Gereiztheit verwandelt sich zu Interesse und Zuneigung, zumal auch sein Leben alles andere als freundlich verlaufen ist. Und so finden die beiden Zuspruch und Halt im jeweils anderen.
„Rote Kreuze“ hat mich sehr zwiegespalten hinterlassen. Einerseits möchte ich unbedingt, dass dieser Roman gelesen wird, weil zu dieser Thematik noch viel zu wenig veröffentlicht wurde, und er neben aller menschlichen Grausamkeit auch über historisch interessante Aspekte berichtet, die mir so gar nicht bewusst waren, u.a. den Umgang der russischen Behörden mit den Vermisstenlisten des Roten Kreuzes.
Andererseits stellt sich mir nun die Frage: muss ein historisch bedeutsamer Roman auch literarisch gut sein? Denn das ist „Rote Kreuze“ für mich ganz sicher nicht. Filipenko versucht auf schmalem Raum, nämlich gerade mal 278 Seiten, ein weites Feld zu bearbeiten. Neunzig Jahre sind eine lange Zeit und Tatjana Alexejewna hat mehr erlebt, als ein Mensch eigentlich ertragen können müssen sollte. Dazu kommt noch der Gegenwartsstrang um den jungen Ich-Erzähler, der zusätzlichen Platz auf den wenigen Seiten beansprucht. Dadurch wirken die Dialoge oft hölzern, sind reine Stichwortgeber für den nächsten Ausschnitt aus Tatjanas Geschichte. Tatjana selbst bleibt schattenhaft hinter dem ihr zugeschriebenen Leben. Ein Leben, an dem unzweifelhaft nichts übertrieben ist, das Millionen russischer Frauen in Abwandlungen so geführt haben müssen. Die pure Unvorstellbarkeit dieses Lebens, die grausame Kälte, mit der hier Menschen gebrochen werden, treibt einem Tränen der Hilflosigkeit auf die Wangen. Die geschichtlichen Abläufe sind es, die berühren, nicht die Romanfiguren selbst. Tatjana Alexejewna ist, wie oben so hart geschrieben, ein Fallbeispiel des Autors, kein lebendiger literarischer Charakter.
Aber trotzdem, und dabei bleibe ich, ist es gut und richtig, dass dieser Roman geschrieben wurde, dass endlich öffentlich gemacht wird, was so lange verschwiegen wurde.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

 

Danach

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Die Rückkehr
Ernst Lothar
erschienen am 10. Juni 2019 im btb Verlag
ISBN 978-3-442-71794-1

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1949 erschien dieser Roman erstmalig. Und thematisierte etwas, das damals niemand hören oder lesen wollte. In heutiger Zeit, mit einer wiedererstarkenden Rechten, ist „Die Rückkehr“ ein wichtiges Zeitdokument, das Einblick gibt in die direkte Nachkriegszeit.
1938 emigriert die österreichische Bankiersfamilie von Geldern in die USA. Nun, 1946, reist der jüngste Spross des Hauses, Felix von Geldern, mit seiner Großmutter Viktoria nach Wien. Vordergründig um finanzielle Angelegenheiten der Familie zu regeln, eigentlich aber, um seine Heimat wiederzusehen und seine Mutter, die die Ausreise damals verweigert hatte. Sie ist liiert mit einem Nazi-Mitläufer und konnte oder wollte sich nicht trennen. Damit geht ein Riss durch die engste Familie. Viktoria lehnt Felix‘ Mutter wegen ihrer Haltung ab, Felix steht zwischen den Stühlen, denn einerseits liebt er seine Mutter, andererseits teilt er Viktorias Einschätzung.
Felix ist in der Zwischenzeit amerikanischer Staatsbürger geworden, verlobt mit einer jungen Amerikanerin. Er trauert jedoch immer noch um seine Jugendliebe, die im Krieg umgekommen sein soll. Als er sie quicklebendig wiedersieht, überrollt ihn die Tiefe seiner noch vorhandenen Gefühle. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Gertrud um des Vorteils willen eine Affäre mit Goebbels eingegangen ist und nun mit einem Amerikaner liiert ist.
Und das ist der Kern des Romans. Es gibt keine einfachen Einteilungen in schwarz oder weiß im Leben. Gertrud ist Felix‘ große Liebe und er muss erkennen, dass seine Gefühle sich wenig darum scheren, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Nun ist dies aber keine kitschige Liebesgeschichte mit Happy End, sondern ein realistischer Nachkriegsroman. Und eine Affäre mit Goebbels kann man nicht einfach aus dem Lebenslauf streichen, genausowenig wie man an die Vergangenheit nahtlos anknüpfen kann. Und so muss Felix erleben, dass der Besuch in seiner alten Heimat zunehmend schwieriger wird und er immer zerissener. Bei jeder Begegnung stellt sich als erstes die Frage, was hat der- oder diejenige im Krieg gemacht, auf welcher Seite stehen die einzelnen Personen.
Felix gehört nirgendwo so wirklich hin. Er ist amerikanischer Staatsbürger, aber eben nicht gebürtig. Also betrachten ihn die Amerikaner bisweilen mit Misstrauen. Er ist kein Österreicher mehr, das nehmen ihm die Landsleute übel. Er hat die Emigrationszeit vergleichsweise angenehm verbracht, das trennt ihn von den Menschen, die in den Lagern leiden mussten. Er bzw seine Familie ist wohlhabend, das ruft bei den ausgebombten und hungernden Wienern Missgunst und Neid hervor. Und den immer noch offen auftretenden Nazis ist er eh ein Dorn im Auge.
Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Roman 1949 nicht gerade begrüßt wurde. Niemand wollte damals eine so harte Beschreibung der vorhandenen Situation lesen. Und vor allem wollte sich wohl kaum einer der Schuld-Frage stellen. Der Krieg war vorbei, nun wurde wieder aufgebaut. An Hunger und Not waren die Besetzer schuld, der Grund für den Krieg schnell vergessen. Die Amis waren doch reich, da hätten sie ja wohl mehr abgeben können, sich mehr kümmern können. Schließlich hatte man sich ja nicht selbst ausgebombt…
Ernst Lothar beschrieb wohl mehr oder weniger, was er selbst erlebt hatte. Er war gelernter Jurist wie seine Figur Felix von Geldern, arbeitete aber später als Theaterkritiker und Intendant des Theaters in der Josefstadt. 1938 flüchtete er in die USA, 1946 kehrte er als Theater- und Musikbeauftragter des US Departments of State zurück. Anders als von Geldern war Lothar Jude, seine Flucht daher nicht freiwillig, sondern lebensnotwendig. Sein Bezug zum Theater fließt wohl in die Figur der Gertrud, einer ehrgeizigen jungen Opernsängerin.
Ein Roman, der zu Recht neu aufgelegt wurde und es verdient gelesen zu werden. Fast würde ich sagen, ein Roman, den jeder lesen sollte, um sich ein Bild zu machen von der damaligen Zeit zum einen und zum anderen, um die Parallelen zur heutigen Zeit zu erkennen, die Verhaltensmuster und Methoden der Nazis und ihrer Mitläufer, die sich nicht einen Deut geändert haben und unfassbarerweise wieder funktionieren, als hätte die Vergangenheit nicht stattgefunden.

Ich danke dem btb Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Besprechungen:

Zeichen & Zeiten https://zeichenundzeiten.com/2018/08/23/fremde-heimat-ernst-lothar-die-rueckkehr/

Das Tagebuch des Egidius Arimond

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Winterbienen
Norbert Scheuer
erschienen am 18. Juli 2019 im Verlag C.H. Beck
ISBN 978-3-406-73963-7

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1944/45. In einem kleinen Eifelstädtchen lebt auf einem abgelegenen Hof Egidius Arimond. Er ist ehemaliger Gymnasiallehrer, im Deutschland Adolf Hitlers wegen seiner Epilepsie freigestellt und mit Mißtrauen betrachtet. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit Bienenzucht, in seiner freien Zeit verhilft er Juden zur Flucht über die Grenze nach Belgien. Gegen Geld, das er für seine Medikamente braucht.
Arimonds Leben dreht sich um die Bienen, sie sind sein Lebenssinn, sein Unterhalt, seine Freude, die er mit dem Leser teilt. Wir erfahren etwas über Zuchtsorten, Lebenszyklen, Ernährungsweise, Brutpflege. Eher nebenbei erzählt er von seinem restlichen Alltag, dem Kampf um die Medikamente, den Liebschaften, seiner Arbeit als Fluchthelfer. Er versteckt die Flüchtlinge in Höhlen in der Nähe seines Hofes und schmuggelt sie in Bienenkörben über die Grenze. Wie groß die Gefahr ist, in die er sich begibt, scheint ihm nicht vollends klar zu sein.
Arimond ist ein stiller Mensch, nicht weltabgekehrt, aber selbstgenügsam. Und so ist auch der Roman, der aus Tagebucheinträgen besteht. Es gibt keine lauten Verzweiflungsausbrüche, keine Wutschreie. Leise, fast eintönig vergehen die Tage. Und doch sind die Zeilen eindringlich. Eindringlich, weil so viel zwischen den Zeilen steht, das stutzen und aufmerken läßt. So ist Arimond durchaus beliebt bei den Frauen. Dem kann er gefahrlos nachgehen, weil er als Mensch mit einer Behinderung sterilisiert wurde.
“ Die Entscheidungen zur Zwangsterilisation und zur Euthanasie liegen beim Amtsgericht. Ich wurde im nahegelegenen Krankenhaus sterilisiert. Dass ich nicht wie andere in eine Anstalt überführt und dort umgebracht wurde, hing wohl mit der Stellung meines Bruders zusammen.“
Ein Leben am seidenen Faden. In einem lebensgefährlichen Kreislauf: mit seiner Erkrankung sollte er unauffällig bleiben. Dafür braucht er Medikamente, die schwer zu bekommen und teuer sind. Genügend Geld kommt nur über Flüchtlingstransporte herein. Und schlußendlich braucht es eine schlüssige Antwort auf die Frage, wo ein Mensch, der von der Herstellung von Bienenprodukten lebt, denn soviel Geld her hat.
Man muss sich einlassen können auf den Stil dieses Romans. Und man braucht Ruhe und Zeit. In einer hektischen Umgebung und halb abgelenkt gelesen, entfaltet sich der Zauber dieses stillen Buches nicht. Dann wirkt der Text dröge und ereignislos. Nimmt man sich jedoch die Zeit und folgt Arimonds mäandernden Gedankengängen, dann liest man einen Text, der in seiner schlichten Schönheit und stillen Eindringlichkeit noch lange nachhallt.

Weitere Besprechungen:

Bookster HRO https://booksterhro.wordpress.com/2019/07/30/norbert-scheuer-winterbienen/
Literatur leuchtet https://literaturleuchtet.wordpress.com/2019/08/08/norbert-scheuer-winterbienen-c-h-beck-verlag/
Zeichen & Zeiten https://zeichenundzeiten.com/2019/08/26/norbert-scheuer-winterbienen/

 

Arg betulich

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Mord auf Selchester Castle
Elizabeth Edmondson
Aus dem Englischen von Peter Beyer
erschienen am 18.02.2019 im Goldmann Verlag
ISBN 978-3-442-48824-7

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Ich habe ja nun schon diverse Male erwähnt, dass ich gerne britische Krimis lese. Bei mir muss es durchaus nicht blutig sein, solange das Buch charmant, gerne ein wenig verschroben, aber logisch aufgebaut ist. Eben passend zu Kamin, Gummistiefeln und Hochmoor. Oder Scones, Tee und Hochadel. Ich scheue da kein Klischee…
Der Vorgänger dieses Romans, „Der Tote in der Kapelle“, entsprach dem weitestgehend. Schauplatz ist eine alte Burg und das dazugehörige Dorf. Es gibt ein ansprechendes Ermittlerduo, eine Teestube, einen Buchladen und einen verschwundenen Earl. Wunderbar zum Schmökern und Entspannen.
Der zweite Band nun baut auf dem ersten auf. Wobei das schon fast übertrieben formuliert ist. Sagen wir besser, der zweite Band spielt im gleichen Setting. Allerdings gibt es kaum Besuche im Dorf und somit auch keine putzigen Dorfbewohner, fehlt das Knistern zwischen den beiden Hauptpersonen Hugo und Freya zur Gänze, wirkt es ein wenig so, als wären der Autorin die Ideen ausgegangen. Kurz, die Handlung stagniert. Zwar wurde ein Nachfolge-Earl aus dem Hut gezaubert, ein Amerikaner gar, aber das Potential, das ein waschechter Amerikaner im traditionell-dörflichen Britannien geboten hätte, das wurde nicht andeutungsweise ausgeschöpft. Man überlege sich nur, welche schönen Szenen sich da auf der kalten, uralten Burg seiner Vorfahren hätten ergeben können. Stattdessen gibt es ein paar halbgare Mordversuche, denen der gute Mann mühelos entrinnt bzw die er kaum wahr nimmt. Wenn man auf mich mit einer Armbrust schießen würde, würde ich danach übrigens nicht entspannt durchs Dorf tapsen. Aber ich bin ja auch kein Earl.
Nein, dieser zweite Band war selbst mir zu spannunglos. Da helfen auch keine Spielchen mit alten elektrischen Leitungen im Wintergarten. Da hätte nur noch ein erzählerischer Blitzschlag helfen können, aber der blieb leider aus.

Weitere Besprechungen:

Esthers Bücher https://esthersbuecher.wordpress.com/2019/02/24/elizabeth-edmondson-mord-auf-selchester-castle/

Berlin, 1942

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Stella
Takis Würger
erschienen am 11.01.2019 im Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-25993-5

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Kein Buch bewirbt der Hanser Verlag in diesem Frühjahr so sehr wie dieses: „Stella“. Geschrieben von Takis Würger, einem Journalisten, der 2017 mit seinem Debütroman „Der Club“ große Erfolge feierte. Sein nächster Roman ist bei vielen Lesern heiß ersehnt, doch trotzdem oder auch deshalb ist es sicherlich nicht einfach, einem Überraschungerfolg dieser Größenordnung einen weiteren Roman folgen zu lassen und dann gleich bei einem renommierten Literaturverlag wie Hanser.
Von außen betrachtet ist das Buch sehr gelungen. Der in schwarzgold gehaltene Einband ist auffällig, die darauf abgebildete Stella Goldschlag zieht Blicke auf sich – ganz sicher ein Eyecatcher in den Buchhandlungsauslagen.
Der Roman hangelt sich an einer wahren Geschichte entlang. Anders kann ich es nicht formulieren und anders mag ich es auch nicht nennen. Es geht um Stella Goldschlag, eine Jüdin, die als „Greiferin“ für die Gestapo arbeitete, d.h. versteckte Juden aufspürte und verhaften ließ. Zunächst wohl, um ihre Eltern zu retten, ihre Motive nach dem Tod der Eltern in Auschwitz sind unklar.
Wichtig ist es zu wissen, dass Würgers Roman Fiktion ist, dass er zwar Namen und ein paar äußere Umstände übernommen hat, aber diese Bausteine recht beliebig über den Text verteilt. So beginnt die Geschichte mit dem jungen Schweizer Friedrich, über dessen Herkunft wir tatsächlich mehr erfahren als über Stellas Lebensumstände. Er wächst bei reichen, aber reichlich seltsamen Eltern auf. Seine alkoholkranke Mutter möchte aus dem Jungen unbedingt einen Künstler machen, der Vater schaut mehr oder weniger hilflos zu. Diesen Teil des Textes fand ich übrigens hervorragend geschrieben. Er hilft die spätere grenzenlose Liebesbedürftigkeit Friedrichs zu verstehen, gibt dem ansonsten eher blassen Charakter Struktur.
Friedrich geht als Kriegstourist nach Berlin. Dem reichen Schweizer stehen alle Türen offen, sein Geld sorgt für Annehmlichkeiten, die normale Bürger längst nicht mehr haben. In einer Kunstschule lernt er die junge Kristin kennen, Aktmodell und eher erfolglose Nachtclubsängerin, und verliebt sich in sie. Kristins Gefühle bleiben im Dunkeln. Mag sie Friedrich wirklich oder ist es eher sein Geld und der Luxus, der ihn umgibt, die sie anziehen? Die Beiden werden eine Art Paar, auch als sich herausstellt, dass Kristin eigentlich Stella heißt und einen eher dubiosen Hintergrund hat. Überhaupt scheint nichts so zu sein, wie es scheint. Was machen in einem solchen Chaos also Freundschaft und Liebe aus? Und wie lange kann man zu Menschen stehen, die die eigenen Überzeugungen nicht teilen?
Eigentlich spannende Fragen. Leider bleibt es bei einer eher seichten Liebesgeschichte, einer Mischung aus „Cabaret“ und „Der blaue Engel“. Der naive Friedrich tappt durch das nationalsozialistische Berlin, als wäre er nicht nur farben- sondern auch gesinnungsblind. Kristinchen versucht sich ein wenig als verruchtes Dietrich-Double, wirkt dabei aber eher nervig als interessant.
Insgesamt wäre es wahrscheinlich schlauer gewesen, Friedrich eine weitere erfundene Person zur Seite zu stellen, eine ohne realen Hintergrund. Es reicht nicht, Prozessakten zu zitieren, um der Geschichte einen ernsthafteren Touch zu geben, wenn man dann nicht weiter in die Tiefe geht. Was hat diese Frau getrieben, sich als Menschenjägerin zu betätigen, selbst als der Ursprungsgrund hinfällig war? Was hat sie zu einer lebenslangen Judenhasserin gemacht, sie, die Jüdin?
Es geht in diesem Roman eigentlich um Friedrich, um seine Sicht der Dinge, um sein Zeiterleben. Wozu also einen realen Lebenslauf verbiegen? Weil Literatur das darf? Natürlich darf sie, aber muss sie auch?
Würger kann schreiben, ohne Frage, aber für mich hat er sich an diesem Thema überhoben. Allzu beliebig wurde, was emotionale Wucht hätte haben können. Schade.

Ich danke dem Hanser Verlag für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.

Weitere Besprechungen dieses Buches:

AstroLibrium https://astrolibrium.wordpress.com/2019/01/11/stella-von-takis-wuerger/
Frau Hemingway https://frau-hemingway.de/stella-von-takis-wuerger-oder-wie-weit-wuerdest-du-gehen/
Wortgelüste http://wortgelueste.de/wuerger-stella/

 

In letzter Sekunde

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Vor dem Anfang

Burghart Klaußner

erschienen am 07.09.2018 im Verlag Kiepenheuer & Witsch

ISBN 978-3-462-05196-4

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Berlin, 1945. Der Krieg ist vorbei, wenn auch die Befehlshaber es nicht akzeptieren wollen und jeden zum Kampf einziehen, der nicht schnell genug ein sicheres Mauseloch gefunden hat. Fritz und Schultz haben es bisher erfolgreich geschafft zu überleben, sie haben sich immer möglichst fern gehalten von den Gefahrenzonen. Jetzt aber sollen sie die Geldkassette ihrer Einheit zum Reichsluftfahrtministerium bringen und müssen dafür einmal quer durch Berlin. Auf alten Fahrrädern.Während die Russen schon die Stadtgrenze erreicht haben. Vorbei an Feldjägern, immer in der Gefahr augenblicklich abkommandiert zu werden an die Front, kämpfen zu müssen für eine verlorene Sache. Und wer sagt ihnen eigentlich, dass in der Kassette wirklich noch Geld ist? Dass sie nicht bei der Ankunft wegen Diebstahls erschossen werden?
Burghart Klaußner hat da einen sehr packenden Debütroman geschrieben, eher eine Debütnovelle. Er beschreibt den Weg der beiden Männer quer durch Berlin sehr ruhig, mit Rückblenden und Gedankenströmen. Und trotzdem bleibt beim Lesen durchgehend eine Anspannung in der Magengrube, gespeist durch die Hoffnung, die Beiden möchten nicht noch am Ende des Krieges noch straucheln und umkommen.
Das Buch ist keines, das lange nachhallt. Es ist eine Momentaufnahme, als hätte man mit dem Fernrohr aus der Masse der Menschen in Berlin diese Zwei herausgepickt und folgte ihnen nun willkürlich. Es wirft keine Fragen auf nach dem Warum und dem Wie, es beschreibt einfach zwei Männer mit ihren Träumen, Wünschen und dem Bedürfnis nach Sicherheit in dem Irrsinn, den sie erleben müssen. Das macht die Geschichte sehr realitätsnah. Es geht nicht um Kriegshelden, es geht um den berühmten „Menschen von Nebenan“, der doch eigentlich nur mit seiner Familie ein geruhsames Leben verbringen möchte.
Man merkt, dass der Autor Schauspieler ist. Der Roman ist sehr bilderreich aufgebaut, man sieht die Verfilmung quasi vor dem inneren Auge nebenher laufen. Und genau das gibt der Erzählung auch ihre Spannung: die Bilder, die sofort entstehen, die Menschen, die man sich problemlos vorstellen kann.
Irgendetwas fehlt mir aber leider. Ich kann den Finger nicht darauf legen, es nicht beschreiben. Mir ist der Inhalt nach dem Lesen sofort wieder entflogen, in ein paar Wochen werde ich überlegen müssen, worum es ging in diesem schmalen Band. Und das nicht, weil die Geschichte nicht interessant wäre, nicht lebensnah, zu hölzern oder dergleichen. Vielleicht liegt es ja auch an mir. Sollte also einer von euch diesen Roman lesen,und es lohnt sich trotz meines „aber“, wäre ich froh, wenn ihr mir euren Eindruck mitteilen würdet. Vielleicht finden wir ja gemeinsam den Haken.

 

 

Durch und durch britisch

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Ohne Furcht und Tadel

Evelyn Waugh

Aus dem Englischen von Werner Peterich

als Taschenbuch am 24.10.2018 erschienen im Diogenes Verlag

ISBN 978-3-257-24459-5

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Als Leser springe ich ziemlich häufig in unbekannte Gewässer. Ich schlage ein neues Buch auf und weiß meistens nicht wirklich, was mich erwartet. Natürlich gibt es den Klappentext, natürlich kenne ich die ungefähre Richtung, das Genre, vielleicht auch andere Werke des Autors. Aber ein ungelesenes Buch eröffnet immer eine unbekannte Welt. Bei einem Vielleser, wie ich es ja bin, sind das ziemlich viele Welten, die man da nacheinander, manchmal auch nebeneinander bereist. Nicht alle lassen sich gleich gut bereisen, manche sind arg holperig, manche steinig und manche so langweilig, dass man innerlich Hüpfekästchen spielt. Und dann gibt es Bücher, die sind wie ein erfrischender Sprung ins Meer, Bücher, bei denen man wieder weiß, warum man eigentlich das Lesen so liebt.
„Ohne Furcht und Tadel“ ist so eines. Man atmet förmlich auf, wenn man die wohldurchdachten Formulierungen liest. Kein Geschwafel, keine Klischees und aufgebauschten Banalitäten, dafür ein klares Konzept und rasiermesserscharfe Spitzen. Waugh erzählt von Guy Crouchback, einem liebenswerten Gentleman der britischen Oberschicht, der es trotz fortgeschritteneren Alters für angebracht hält, anläßlich des Zweiten Weltkriegs der britischen Armee beizutreten. Der Leser erfährt von Korpstraditionen, Aufstiegsschacher, wirren Missionen, irren Offizieren. Es ist bemerkenswert, dass jemand so eindringlich über den Krieg schreiben kann, ohne dabei großartig Blut zu vergießen. Waugh bleibt meist hinter den Linien und hat mit Crouchback einen Klischeebriten erfunden, der lernen muss, dass Fairplay für die anderen zumeist ein Fremdwort ist, einen guten Menschen, dessen Qualitäten nicht anerkannt werden, der stets beinahe unter die Räder gerät. Gleichzeitig nimmt Waugh die Abläufe beim Heer auseinander, das starre Regelwerk, Willkür und Kadavergehorsam.
Es gehört schon ein immenses Können dazu, eine 976 Seiten starke Satire auf das englische Kriegswesen zu schreiben, die nicht eine Sekunde langweilig oder -atmig ist. UInd den Leser trotz aller Ironie und eleganten Wendungen nie vergessen zu lassen, dass ein Krieg menschengemacht ist und dass es Menschen gibt, die im Krieg regelrecht aufblühen, dass es immer sinnlose Opfer gibt und eigentlich keine Seite dabei wirklich gewinnen kann.
Es sind Romane wie dieser, die einen Maßstab dafür geben können, was Literatur sein kann. Die geradezu leuchten durch ihre Fabulierlust, einzigartigen Charaktere und geschliffenen Formulierungen. Aus denen man ständig vorlesen oder zitieren möchte, weil man hier eine Wendung gelungen findet und dort eine Bemerkung treffend. Romane, die man drei, viermal lesen kann, um immer noch neue Aspekte zu entdecken.
„Ohne Furcht und Tadel“ ist zu Recht ein Klassiker der englischen Literatur, ein Werk, das auch nach über sechzig Jahren nichts von seinem Funkeln verloren hat.

Ich danke dem Diogenes Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

1944

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Unter der Drachenwand

Arno Geiger

erschienen 2018 im Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-25812-9

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1944. Der junge Soldat Veit Kolbe wird zur Genesung nach Mondsee geschickt, einem Dorf unterhalb der Drachenwand in Österreich. Dort wird er bei der unfreundlichen Trude Dohm einquartiert. Ebenfalls bei Frau Dohm im Quartier ist Margarete mit ihrem Baby, deren Mann an der Front ist. Aus gelegentlichen Begegnungen werden gemeinsame Abendessen und schlußendlich Liebe. Aber sobald Veits Verletzungen verheilt sind, wird ein neuer Einberufungsbefehl kommen.
Was nach einer romantischen Liebesgeschichte in Kriegszeiten klingt, ist auch genau das, eine romantische Liebesgeschichte in Kriegszeiten. Aber eben nicht nur. Arno Geiger gelingt es, das Große im Kleinen abzubilden, Mondsee als ein Ort unter vielen im sogenannten Deutschen Reich. Da ist der erschöpfte, kriegstraumatisierte Soldat, die Kriegsbraut, die ihren Mann kaum kennt, die Lehrerin, die für Zucht und Ordnung sorgen soll und ihre landverschickten Schützlinge, die kaum zu bändigen sind, der Brasilianer, Bruder der Quartiersfrau Dohm, der für seine offenen Worte schwer bezahlen muss und der Postenkommandant in Mondsee, der sich an jegliche Regeln hält, um nur ja nicht aufzufallen. Sie alle sind Stellvertreter einer kriegsgeschädigten Gesellschaft.
Aber obwohl man die Idee zu diesem Roman, die Konstruktion dahinter zu erkennen vermeint, ist es eben die große Kunst Geigers lebende, atmende Menschen erschaffen zu haben. Menschen, deren Beweggründe man nachvollziehen kann, deren Schicksal einem nahegeht, die eben im Guten wie im Schlechten menschlich handeln. Es gibt keine Bösewichter und Helden, nein, Geigers Gestalten versuchen auf ihre Weise und ihrem Charakter entsprechend mit der Ausnahmesituation zurecht zu kommen. Und das gelingt naturgemäß mal mehr, mal weniger gut.
Was diesen Roman mit seinen vielen Einzelschicksalen zusammenhält, ist die Sprache. Nüchtern, geradlinig und doch feinfühlig erzählt Geiger seine Geschichte. Und der Erzählfluss scheint ihm so wichtig zu sein, dass er dem Lesenden Atempausen in Form von Schrägstrichen vorgibt, wie man das sonst eher aus Theatertexten kennt. Und das ist auch das Besondere, das Großartige an diesem Roman: ein Autor, der seinen Text bis ins Kleinste durchdacht und geplant hat, der jedes Wort und jedes Satzzeichen bewußt gesetzt hat und dem es trotz oder vielleicht auch genau darum gelingt, seiner Geschichte Leben einzuhauchen und, genau dosiert, Gefühl. Hier ist ein Meister seines Fachs am Werk, selten erlebt man eine solche handwerkliche Präzision. Und so war die Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises wohl zu erwarten, gefolgt von der Nominierung auch für den Österreichischen Buchpreis.
Und wer sich bisher nicht herangetraut hat an „gehobene“ Literatur, weil er sie für nicht oder nur schwer lesbar hielt, der möge hier einen Versuch wagen. Denn neben all dem oben Gesagten, entwickelt der Roman beim Lesen eine solche Sogwirkung, dass ich ihn mehr oder weniger in einem Zuge gelesen habe, unwillig über jede notwendige Pause. Ich wiederhole es also wirklich gern: ein ganz und gar großartiger Roman!

 

Weitere Besprechungen:

leseninvollenzügen https://leseninvollenzuegen.wordpress.com/2018/05/29/review-unter-der-drachenwand/
literaturgeflüster https://literaturgefluester.wordpress.com/2018/08/25/unter-der-drachenwand/
literaturleuchtet https://literaturleuchtet.wordpress.com/2018/02/14/arno-geiger-unter-der-drachenwand-hanser-verlag/

Warten

Ein Ire in Paris von Jo Baker

Ein Ire in Paris

Jo Baker

Aus dem Englischen von Sabine Schwenk

erschienen 2018 im Knaus Verlag

ISBN 978-3-8135-0754-6

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Bisweilen passt alles zusammen, Buch, Leser und der Moment,den man zum Lesen eines bestimmten Buches wählt. Mir ging es mit Jo Bakers „Ein Ire in Paris“ so.
Das Leben verläuft leider nicht immer wunschgemäß. Ein mir sehr nahestehender Mensch ist sehr krank geworden und nun besteht mein Leben aus Warten. Warten auf den nächsten Befund, Warten auf Versicherungen, Krankenkassen, Warten auf den nächsten Tag mit neuer Kraft und Hoffnung, Warten…

Und um dieses Warten geht es im Grunde auch in diesem Roman. Jo Baker spürt der Zeit nach, die der irische Schriftsteller Samuel Beckett im Zweiten Weltkrieg in Frankreich verbracht hat. Er ist trotz Kriegsbeginn zu seiner Geliebten Suzanne nach Paris gefahren und schließt sich dort dem Widerstand an. Nachdem seine Zelle auffliegt, müssen Beckett und Suzanne untertauchen. Und nun beginnt es, das Warten. Das Warten auf das Ende des Krieges, das Warten auf Hilfe, auf neue Papiere, auf Unterkunft. Dazwischen immer wieder gefährliche und anstrengende Fluchten, Hunger und Verzweiflung. Dazu die ständige Angst, erkannt oder verraten zu werden.

Über diese Zeit hat Beckett sich immer mehr oder weniger ausgeschwiegen. Umso eindrucksvoller gelingt der Autorin diese Annäherung, die das Werk des Nobelpreisträgers zugänglicher macht. Zugänglicher deshalb, weil das Weglassen alles unnötig Gesagten, die Verknappungen, das Sinnlose im Alltäglichen hier ihren Ursprung gehabt zu haben scheinen. Weil erst das unmittelbare Erfahren des Kriegsalltags als Flüchtling Becketts Ausdruck geschliffen und geprägt hat.

Ein Roman, der mich ergriffen hat. Man erlebt, wie die Wartehallenposition, das beständige kurz vor dem Sterben, aber nur halb tot sein, die Menschen zermürbt, ihre Gefühle untergräbt, wie das Warten an den kaum noch vorhandenen Kräften zehrt, und wie manch einer den Tod vorzieht, weil er den Wechsel zwischen Flucht und Stillstand nicht mehr erträgt.

Wer sich für die Kriegsjahre und Literatur interessiert, dem kann ich nur eine klare Leseempfehlung aussprechen. Für mich ist der Roman eines der Buchhighlights des Halbjahres.

Ich danke dem Knaus Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Rezensionen:

Buchperlenblog https://buchperlenblog.wordpress.com/2018/05/31/rezension-jo-baker-ein-ire-in-paris/