Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

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Der Trafikant

Robert Seethaler

erschienen 2013 im Verlag Kein & Aber

ISBN 978-3-0369-5909-2

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1937. Der junge Franz muss sein Heimatdorf verlassen, in dem er sehr verwurzelt ist und seine Mutter zurücklassen, zu der er ein sehr enges Verhältnis hat. Er wird Lehrling bei einem Bekannten der Mutter, dem Otto Trsnjek, der in Wien eine kleine Trafik leitet. Für Nichtösterreicher: eine Trafik, das ist eine Art Tabak- , Rauchwaren- und Zeitschriftenladen. Ein Kunde dieser Trafik ist Siegmund Freud, zu dem Franz tatsächlich einen Kontakt aufbaut und der Franz bei seiner unglücklichen Liebe zur Varietetänzerin Anezka Rat geben kann. Bis dahin ein Roman über das Erwachsen werden in der Großstadt, über den Jungen vom Dorf im mondänen Wien. Aber schon die Jahreszahl 1937 verrät es, die Zeiten sind wenig geeignet, um in Frieden zu leben.
Die Nationalsozialisten übernehmen die Regierung, Freud ist als Jude ein Geächteter, der unter Beobachtung steht, Otto Trsnjek wird plötzlich verhaftet und verschwindet spurlos und Franz muss nun allein herausfinden, wie man in solchen Zeiten ein ehrlicher Mensch bleiben kann.
Robert Seethaler hat mit „Der Trafikant“ ein sehr leises, eindringliches Buch geschrieben. Sein Franz ist eine reine Seele, die ganz unbeschrieben und weiß in Wien landet, aber einer inneren Moral folgt, die ihn den Weg des Guten einschlagen lässt in einer unguten Zeit. Franz ist unpolitisch, er sieht nur den einzelnen Menschen. Und er ist treu bei den Menschen, die sein Herz gewonnen haben.
Der Roman beweist, dass große Literatur nicht immer in dicken Wälzern daher kommen muss oder mit kompliziertem Innenleben. Wenn einer schreiben kann wie Seethaler, dann ist ein schmaler Band so intensiv und reichhaltig wie bei manch anderem eine mehrbändige Saga. Und trifft einen still und präzise ins Herz.

 

Herta und Georg

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Ein schönes Paar

Gert Loschütz

erschienen 2018 im Verlag Schöffling & Co.

ISBN 978-3-89561-156-8

Longlist für den deutschen Buchpreis 2018

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Mein erster gelesener Roman von der diesjährigen Longlist für den Deutschen Buchpreis. Und ganz sicher nicht der schlechteste Einstieg in diese Liste.
Gert Loschütz erzählt von einer lebenslangen Liebe, einer Liebe, die trotz Trennung nicht endgültig loslassen kann, von zwei Menschen, die auf ewig verbunden bleiben.
Herta und Georg lernen sich kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs kennen, eine junge Verkäuferin und ein Berufssoldat. Obwohl beider Eltern die Verbindung nicht schätzen, werden die Beiden ein Paar. Sie bekommen einen Sohn, Philipp genannt Fips, und richten sich nach dem Krieg in der DDR ein. Doch weil das Leben dort kein Zuckerschlecken ist und ein Fehler schnell gemacht, ist die junge Familie irgendwann gezwungen, in den Westen zu fliehen. Dort zerbricht ihre Ehe, Herta läßt ihren Sohn bei Georg zurück und verschwindet jahrelang. Nur Postkarten geben in unregelmäßigen Abständen ein Lebenszeichen.
Loschütz versteht sein Handwerk. Stück für Stück setzt der Leser gemeinsam mit Philipp Hertas und Georgs Werdegang zusammen, wird man zu den wichtigen Kreuzungen in ihrer beider Leben geführt. Oft bleibt es dem Leser dabei selbst überlassen, sich das „Wie“ oder „Warum“ zu denken, vieles bleibt vage, einiges offen. Aber welcher Sohn weiß schon alles über das Leben seiner Eltern?
Der Roman ist wohl durchdacht, wohl formuliert und trotzdem sprang bei mir der Funke nicht über. Vielleicht weil mir das Handeln der Personen zu unverständlich war? Stellt ein Sohn seiner Mutter, die über Jahrzehnte verschwindet, wirklich keine Fragen, wenn sie urplötzlich wieder auftaucht? Und auch nicht dem Vater über die Gründe dieses Verschwindens, der Trennung? In jungen Jahren vielleicht nicht, aber später, als Heranwachsender, als Teenager?
Und dann wirkt der Text zu poliert auf mich, ja, tatsächlich zu professionell. Mir fehlt der Lebenshauch in der brillanten Konstruktion. Sprachlich wunderbar elegant, bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, ist eigentlich im Überfluss alles da, was ein Meisterwerk benötigt. Aber wirklich berührt hat mich der Roman nicht. Auf der Longlist steht er trotzdem definitiv verdient und hat sicherlich auch gute Chancen für die Shortlist.

Weitere Besprechungen:

LiteraturReich https://literaturreich.wordpress.com/2018/07/05/gert-loschuetz-ein-schoenes-paar/
Zeichen&Zeiten https://zeichenundzeiten.com/2018/02/06/getrennt-gert-loschuetz-ein-schoenes-paar/
Leseschatz https://leseschatz.com/2018/02/12/gert-loschuetz-ein-schoenes-paar/

 

Die letzten Tage

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Wiesenstein

Hans Pleschinski

erschienen 2018 im C.H. Beck Verlag

ISBN 978-3-406-70061-3

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Selten sieht man ein Buch, bei dem wirklich alles passt und ineinandergreift. Wo Inhalt und Aufmachung eine Einheit sind, offenbar überlegt aufeinander abgestimmt. „Wiesenstein“ ist so ein Buch.

Es beschreibt die letzten Lebenswochen Gerhard Hauptmanns, des großen Dichters und Literaturnobelpreisträgers von 1912 in Romanform. Romanform heißt in diesem Falle, dass neben dem großen Teil gut recherchierten Materials aus Tagebüchern, überlieferten Worten und Schriften, auch ein Teil erdacht ist, Dialoge beispielsweise, immer mit dem Hintergedanken „so könnte es gewesen sein“.
Nachdem ein Aufenthalt im zerbombten Dresden nicht mehr sinnvoll erscheint, wo der 83jährige Hauptmann und seine Frau Margarete in einem Sanatorium weilten, beschließen sie nach Hause zurückzukehren. Zuhause, das ist ihre Villa Wiesenstein in Schlesien. 1945 ein geradezu wahnwitziges Unternehmen. Aber dank der immensen Berühmtheit des Schriftstellers und der daraus sich ergebenden Privilegien gelingt das Unterfangen. In Wiesenstein nehmen die Hauptmanns ihr gewohntes Leben auf, samt Köchin, Gärtner, Hausdiener, Zofe, Sekretärin und Masseur. Und während um sie herum die Welt zerbricht, werden mehrgängige Menüs gereicht, fließt der Wein und es gibt sogar einen Filmabend für Freunde und Bedienstete.

Hans Pleschinski gelingt es mühelos, die verlorene Welt des Großbürgertums und der damaligen Künstlerkreise wieder aufleben zu lassen. Er beschreibt die Abläufe in der Villa sehr genau, von der Küche bis zum Salon. Erschütternd zu lesen, wie sehr die Menschen um Hauptmann herum, seien es Kollegen oder Angestellte auf seinen Schutz hoffen, darauf, dass sowohl Nazis als auch Russen ihn kennen und schätzen, und vor allem erschütternd, wie wenig das die Hauptmanns beschäftigt. Besonders Margarete Hauptmann muss eine sehr standesbewußte, kühle Frau gewesen sein, deren einzige Sonne ihr Mann und sein Ruhm waren und die das Wohlergehen anderer schlichtweg nicht interessierte.
Unfassbar die Geschehnisse in den Städten und Dörfern rundherum, während die Schlinge immer enger wird um die Villa. Verbrannte Häuser, vergewaltigte Frauen, Leichengestank, Plünderer, Hunger, Angst, Verzweiflung – in Wiesenstein werden Literaturabende veranstaltet mit Lesungen aus dem Werk Hauptmanns.
Und als es tatsächlich funktioniert, als sowohl Russen als auch Polen den Sonderstatus Hauptmanns aufrecht erhalten, wie wenig Dankbarkeit spürt man da, wie selbstverständlich wird das doch aufgenommen.
Und trotzdem  – Hauptmann muss innerlich gespalten gewesen sein, denn im Gegensatz zu seiner Frau und trotz schwerer Erkrankung, scheint er mehr von dem Geschehen um sich herum wahrzunehmen, als er zeigen mag, macht er sich mehr Gedanken um die Richtigkeit seines Handelns, als man zunächst vermuten mag. Und er muss eine enorme Ausstrahlung besessen haben, denn er wird von allen verehrt, die mit ihm in Berührung kommen, auch von denen, die um seine Fehler wissen.

Hans Pleschinski hat mit „Wiesenstein“ eine berührende Annäherung an einen großen Dichter geschrieben und ein Stück Zeitgeschichte in all seiner Grausamkeit erhellt. Für mich ist dieser Roman eines der großartigsten Bücher, die ich bisher lesen durfte.
Der C.H. Beck Verlag hat diesem besonderen Roman einen passenden Rahmen gegeben: der Schutzumschlag zeigt einen Turm Wiesensteins, das Vorsatzpapier die Fresken in der Eingangshalle, Photos von den Hauptmanns und der gesamten Villa runden das Ganze ab. Ein Buch, dem ich viele Leser wünsche, schon allein, um das inzwischen in Vergessenheit geratende Werk Gerhard Hauptmanns wieder in das Bewußtsein zu rufen.

Was für ein Theater!

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Eine leichte Komödie

Eduardo Mendoza

Aus dem Spanischen von Peter Schwaar

erschienen 1998 im Suhrkamp Verlag

ISBN 351841002-4

 

Der 1943 in Barcelona geborene Eduardo Mendoza ist einer der bekannteren Schriftsteller Spaniens. Als sein größter Erfolg gilt der Roman „Die Stadt der Wunder“, im Grunde ein Buch über Barcelona zwischen 1888 und 1929. Mendoza beschäftigt sich in seinem Werk vornehmlich mit der Zeit des Franco-Regimes und den Auswirkungen auf Land und Menschen.
In „Eine leichte Komödie“ geht es um den alternden Frauenheld und Komödienschreiber Prullas, einen Menschen, der offensichtlich sich selbst ins Zentrum seiner Welt gesetzt hat. Reich verheiratet und somit bar aller drängenden Sorgen, lebt er vergnügt vor sich hin, nimmt es mit der ehelichen Treue nicht allzu ernst und labt sich am Erfolg seiner Bühnenstücke. Die werden traditionell von seinem Jugendfreund Gaudet inszeniert und mit immer derselben Darstellerin in der Hauptrolle aufgeführt. So vergeht die Zeit und unbemerkt von Prullas geraten seine Komödien aus der Mode und seine Freunde entwickeln andere Interessen. Als ein Theatermäzen, mit dem er sich eine Liebschaft geteilt hat, ermordet aufgefunden wird und er unter Hauptverdacht gerät, rüttelt ihn das für eine Zeit auf. Er geht sogar so weit, selbst zu ermitteln und ihm unbekannte Milieus zu erkunden.

Sprachlich ist dieser Roman überragend. Man hat den Eindruck, jede Formulierung, jeder Satz, jedes Wort ist genauestens geprüft und passend geschliffen worden. Der Einblick in die Gesellschaft Spaniens zu Anfang der Fünfziger Jahre ist überaus interessant. Mendoza lässt Prullas durch diverse Gesellschaftsschichten wandern, von der reichen Oberschicht über die Künstlerszene bis zu den Elendsvierteln. Jede Schicht hat ihren eigenen Klang, ihre eigene Art sich auszudrücken und sich zu verhalten. Besonders spannend sind dabei die Beamten der Ermittlungsbehörde, die es gewohnt sind, willkürlich und nach eigenem Ermessen zu arbeiten und dabei als Maßstab durchaus persönliche Zu- und Abneigungen ansetzen.
Ansonsten kann man bei der Lektüre erfahren, wie eine vom „machismo“ geleitete Gesellschaft funktioniert. Frauen sind entweder „hübsche Käferchen“, dann sind sie perfekt für den nächsten Seitensprung oder unansehnlich, dann sind sie einsetzbar als Dienstmädchen. Wenn sie in ihrer Rolle nicht wie gewünscht funktionieren, wird auch schon einmal über eine Lobotomie nachgedacht. Das ist zwar literarisch hochwertig gemacht, aber ansonsten recht wenig erbaulich.

Trotz der meisterhaften Umsetzung, der wohlgewählten Worte, der durchdachten Konstruktion, des interessanten Plots will der Funke allerdings bei mir nicht überspringen. Ich habe mich zwingen müssen, das Buch zu lesen. Das mache ich eher selten, aber in diesem Falle habe ich wirklich alles daran gesetzt, einen Einstieg zu finden. Es war ein Gefühl, als würde ich in einem Museum hinter einer Glasscheibe ausgestellte Artefakte betrachten.
Nun muss ich gestehen, dass mir spanische und lateinamerikanische Literatur häufiger nicht liegt. Ob es an der Sprachmelodie liegt, an der Umsetzung, an den Themen, ich vermag es nicht zu sagen.
Wer Sittenbilder und Gesellschaftsromane mag, und sich vielleicht sogar für Spanien in der Nachkriegszeit interessiert, der sollte zumindest einen Versuch wagen.

Glück und Glas…

Kaesebier erobert den Kurfuerstendamm von Gabriele Tergit

Käsebier erobert den Kurfürstendamm

Gabriele Tergit

erschienen 2017 bei btb

ISBN 978-3-442-71556-5

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Gabriele Tergits Buch mit dem etwas sperrigen Titel „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ erschien ursprünglich 1931 im Ernst Rowohlt Verlag. 1933 emigrierte die jüdische Journalistin mit ihrer Familie nach Palästina, nachdem sie nur knapp einem Überfallkommando der SA entgangen war. Als ehrliche und pointierte  Prozessberichterstatterin war sie auf sehr dünnes Eis geraten.

Ihr Roman spielt 1929/30, eine unterschwellige Bedrohung liegt zwar in der Luft, aber noch suchen die Zeitungen verzweifelt nach Schlagzeilen. Die Berliner Rundschau veröffentlicht einen Artikel über den mittelmäßigen Varietesänger Käsebier, die anderen Berliner Zeitungen ziehen nach. Aus dem unbekannten Schlagerträllerer wird ein Medienstar, die Ufa dreht einen Film, es wird eigens ein Theater gebaut, es gibt Bücher, Staubtücher, Zigaretten, Gummipuppen mit dem Konterfei Käsebiers, die Massen pilgern zu seinen Auftritten. Bis, ja, bis die Saison zuende ist, der Ufa-Film floppt und die Massen weiterziehen zum nächsten vermeintlichen Superstar. Was zurück bleibt, ist verbrannte Erde. Der Pleitegeier schwebt über allen, die zuviel investiert haben in die angeblich sichere Sache und nur die, die nach oben katzbuckeln und nach unten kräftig treten entkommen dem Ganzen wohlbehalten und womöglich sogar reicher als zuvor.

Das ist heute noch genauso aktuell wie damals. In Sendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“ macht man sich genau diese Abläufe zu Nutzen. Filtert aus den Unerfolgreichen, den Möchtegerns den mit der breitesten Publikumszustimmung, hypt ihn für eine Saison und lässt ihn fallen für den nächsten Kandidaten. Eine Verbrennungsmaschinerie ohne Herz und Verstand.

Gabriele Tergit versteht es sehr gut das Atemlose, Schnelle der Zeitungswelt zu vermitteln. Kein Wunder, waren ihr die Abläufe, die Themen in den Redaktionen ja zutiefst vertraut, hatte sie ja Vorbilder, auf die sie bei der Gestaltung ihrer Charaktere zurückgreifen konnte. Aber gleichzeitig portraitiert sie auch vortrefflich die Naivität der Menschen, den Wunsch, den Schein zu wahren in einer untergehenden Welt, was dazu führt, dass man beispielsweise trotz drohender Insolvenz den Frankreichurlaub nicht absagt- denn, was würden die Leute nur denken?

Für den heutigen Leser interessant und bisweilen auch witzig zu lesen ist der Berliner Slang der 30iger Jahre. An diesen umgangssprachlichen Sätzen erkennt man,wie sehr sich Sprache und Haltung seitdem verändert haben. Nicht jedoch die Machtmechanismen in Geschäftswelt und Politik, das Bestreben erst die eigenen Pfründe zu retten. Und das macht dieses Buch definitiv lesenswert, auch aus heutiger Sicht.

Das Nachwort von Nicole Henneberg erhellt ein wenig die Hintergründe des Romans. Sie erzählt vom Leben der Tergit, erzählt von den Umständen der Zeit und darüber, welche Menschen Pate gestanden haben könnten für einige der Charaktere im Buch. Vielleicht hätte man aus dem Nachwort ein Vorwort machen sollen, aber grundsätzlich steht der Roman auch für sich allein.

Ein Fenster in eine vergangene Zeit und Welt, das uns aus heutiger Zeit aber zeigt, wie wenig sich manches ändert und das unsere Zeit so modern eigentlich gar nicht ist.

 

Ich danke dem btb-Verlag herzlich für das Leseexemplar.

Aus des Autors Schatzkästlein

Günter Grass

Fünf Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht

Erschienen 2001 in der editionWelttag

 

Heute stelle ich wieder ein Fundstück aus meinen Bücherregalen vor. 2001 veröffentlichte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels dieses Büchlein anläßlich des Welttages des Buches. Günter Grass plaudert darin über sein Schreiben, darüber wie sich bei ihm bildende Kunst und Schreibkunst vermischen, ergänzen und gegenseitig befruchten. Enthalten sind auch unveröffentlichte Gedichte und Textstücke, Zeichnungen und Arbeitsnotizen.

So ein Einblick kann ja durchaus interessant sein. Vor allem bei einem Autor, an dessen Werk man sich so abkämpfen kann, das sich teilweise so wenig erschließt, wie das von Grass. Wie ist er auf einzelne Motive gekommen, was hat ihn beeinflusst, wie viel persönliches Erleben fließt ein? Nun kann so ein schmales Buch darüber nicht umfassend Auskunft geben. Aber man erkennt zumindest, was dem Autor wichtig genug war, um es in den „Werkstattbericht“ aufzunehmen. Und gegebenenfalls auch, was er lieber weggelassen hat.

Der Anlass der Veröffentlichung macht deutlich, wofür das Buch gedacht war. Es soll neugierig machen, zum Lesen animieren, anfüttern. Dafür ist es bestens geeignet, ist es doch ansprechend gestaltet, gebunden, mit großem Photo des Autors auf dem Einband.

Eigentlich ist es schade, dass diese wunderbare Idee, deutschsprachige Autoren vorzustellen, nicht weiter geführt wurde. Aber vielleicht fanden sich nicht genug Interessenten für diese Art Buch. Was wirklich traurig wäre…

Meister der Novelle

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Katz und Maus

Günter Grass

bei dtv erschienen im September 1993

ISBN 978-3-423-14347-9

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Wer meinen Blog verfolgt, hat ja eventuell schon meine Rezension zu Grass‘ „Hundejahre“ gelesen. Dort habe ich geschrieben, dass ich mich mit der ausufernden, männlich protzenden Schreibweise nicht anfreunden konnte. In „Katz und Maus“ nun erweist Grass sich als Meister der schlanken und punktgenauen Formulierung, als Meister der Novelle.

Erzählt wird von den Jugendjahren eines Joachim Mahlke im Danzig des 2. Weltkriegs. Mahlke, ein eher sonderbarer Einzelgänger, dessen Schwimmkünsten und Schwanzlänge seine Klassenkameraden eine eher unfreiwillige Bewunderung entgegen bringen, ringt um Aufmerksamkeit und Anerkennung. Dabei steigert er sich in einen religiösen Marienwahn und erhofft sich von der Erlangung des Ritterkreuzes eine Art Erlösung.

Die Art, wie Grass den verzweifelten Jüngling und seine Umgebung portraitiert, wie er eine Bande pubertierender Jungs dem Ernst des Lebens gegenüber stellt, wie er insgesamt trotz Kürze der Form seine Charaktere ausformuliert, ist, ich schrieb es schon, meisterhaft. Kein Wort zu wenig, keins zuviel und trotzdem unverkennbar Grass.

„Wenn Mahlke in Brustlage schwamm, tanzte ihm der Schraubenzieher deutlich, denn das Ding hatte einen Holzgriff, zwischen den Schulterblättern. Schwamm Mahlke auf dem Rücken, torkelte der Holzgriff auf seiner Brust, verdeckte aber nie vollkommen jenen fatalen Knorpel zwischen Kinnlade und Schlüsselbein, der als Rückenflosse ausgefahren blieb und eine Kielspur riß.“

Wortspiele, bildhafte Sprache, Bandwurmsätze, Anspielungen und Verknüpfungen zur „Blechtrommel“, das gesamte Grass’sche Programm wird aufgefahren, aber eben in gekürzter, gestraffter Form. Und in der Essenz zeigt sich, was für ein phantastischer Schriftsteller er war, selbst für einen Literaturlaien wie mich. Ich hätte mir mehr davon auch für die „Hundejahre“ gewünscht, mehr Straffung, mehr Zuspitzung und ja, mehr Mut zum reinen Erzählen. In dieser Novelle hatte er das alles, und erschafft mit Mahlke einen modernen Ritter von der traurigen Gestalt.

Wortgewaltig

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Max

Markus Orths

erschienen 2017 im Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-25649-1

erhältlich u.a. in der Bücherstube

 

„Alles starb hier. Ein loser Vogel floh vor dem Donnern. Keine Krähe, kein Rabe, kein Kakadu: eine Amsel. Max sah ihr nach in die Nacht. Fliegen: fliehen. Stattdessen Granaten, Kanonen, Ducken in den Grabendreck. Jedes Bild ertrank im Jahre 1915. Was ist deine Lieblingsbeschäftigung, Max? – Sehen! Sehen! Sehen! Seine lebenslange Antwort. Doch gab’s nichts mehr zu sehen jetzt. Das Licht lag im Schlamm.“

Max. Sechs Frauen, sechs Lieben, ein Jahrhundert. So bewirbt der Hanser Verlag das neue Werk von Markus Orths. Und deutet damit schon an, welche Mammutaufgabe Orths sich da vorgenommen hat. Nicht irgendein Max ist es, über den er schreibt, nein, es ist Max Ernst, der unangepasste Ausnahmekünstler, der ewig Suchende, Streitbare. Und seine Frauen: Lou Strauß-Ernst, Gala Eluard, Marie-Berthe Aurenche, Leonora Carrington, Peggy Guggenheim, Dorothea Tanning. Sechs Frauen, und doch nur eine Auswahl aus den unzähligen Frauen des Max Ernst.

2.April 1891 – 1.April 1976. Fast ein Jahrhundert. Und welch eine Zeit: geboren im Kaiserreich, zwei Kriege erlebt, aus der wilhelminischen Enge in den Schützengraben, von da nach Paris, das Nazireich, Flucht, entarteter Künstler, gefeiert und wieder fallengelassen in Amerika, Rückkehr nach Frankreich. Ein reiches Leben, ein schweres Leben, ein langes Leben.

Das alles verarbeitet Markus Orths in seinem Buch, größtenteils gesehen durch die Augen der Frauen. Faszinierend , wie es dem Autor gelingt, Max Ernst quasi als Spiegelbild wieder aufleben zu lassen, als jugendlicher Liebhaber bei Lou, als besitzergreifender Teil einer Menage á trois bei Gala und Paul Eluard, als Objekt einer Obsession bei Marie-Berthe, als Teil einer Verschmelzung  bei Leonora, als unwilliges Besitzstück der Peggy Guggenheim und schlußendlich als teilender Partner bei Dorothea.

Jede Frau zeigt uns eine andere Facette an Max Ernst und erst alle Ansichten zusammen ergeben das Gesamtbild. Dabei lässt Orths den Frauen viel Raum, tritt der Künstler teilweise sogar in den Hintergrund, erfahren wir viel über Leben und Leiden seiner Partnerinnen. Auffallend oft sind sie labil, schillernde Falter an der Grenze zum Wahnsinn. Alle sind sie kunstbegeistert, kunstbesessen, Malerinnen, Kritikerinnen, Kunstsammelnde. Auf der Suche nach einer Identität in einer umbrechenden, auseinanderbrechenden Welt.

Künstlerisch ist die Zeit, in der Max Ernst in Paris lebt, die Zeit zwischen den Kriegen, die Zeit, in der ein Großteil des Romans spielt, eine Hochphase: Breton, Eluard, Dali, Picasso. Alle auf der Suche nach neuem Ausdruck, nach Wahrheit im Ausdruck. Alle kriegsgeprägt, bereit alte Werte zu verwerfen. Dadaismus, Surrealismus, Aufbruch, Neufindung – laut, schnell, exzessiv. Alles wird bis zur Neige probiert, Alkohol, Sex, durchzechte Nächte. Nur langsam dringt das Zeitgeschehen in die Künstlergemeinschaft, spät erst erkennen sie die Zeichen der heranbrechenden Nacht. Erst in letzter Sekunde gelingt Max Ernst die Flucht nach Amerika. Er verliert dabei viel: Freunde, seine vielleicht größte Liebe, Teile seines Werks.

Markus Orths schafft es tatsächlich, den Geist dieser Zeit wieder zum Leben zu erwecken; seine Personen sind aus Fleisch und Blut, nicht nur Schattenbilder aus gut recherchierten Quellen. Wortgewaltig, atemlos, bilderreich gibt er den Menschen eine Stimme, lässt er Farben leuchten, erfasst er Zeitströmungen. Selten habe ich nach dem Lesen eines Buches das Gefühl aufzutauchen, Luft schnappen zu müssen. Hier brauchte ich tatsächlich Zeit, habe ich lange noch Bilder vor mir gesehen, Sprachschnipsel im Kopf gehört, Worte hin und her bewegt.

Und darum möchte ich Markus Orths danken, dass er gegen das Vergessen angeschrieben, Max Ernst und seiner Zeit eine so großartige Stimme gegeben und damit den Menschen hinter den Kunstwerken gezeigt hat.

 

Ich danke dem Hanser Verlag und lovelybooks.de für das Rezensionsexemplar.

Eine Annäherung

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Hundejahre

Günther Grass

TB erschienen 1968 bei Rowohlt

Erhältlich derzeit beim dtv-Verlag

 

Günther Grass. Umstrittener Nobelpreisträger, bewundert, gehasst, heiss diskutiert. Kann man als „Normalsterblicher“, als jemand, der zwar gerne und viel liest, aber kein dahingehendes Studium, keine literaturbehandelnde Lehre oder Ausbildung absolviert hat, sich überhaupt zu Grass‘ Werk äußern? Kann man überhaupt der Vielschichtigkeit, den Zitaten und Anspielungen gerecht werden? Ich denke, dass kaum ein Autor nur für die Literaturwissenschaftler oder das Feuilleton schreibt, aber für welchen Leser schreibt Grass?

„Hundejahre“ ist Teil der Danzig-Trilogie, zu der auch die berühmte „Blechtrommel“ und „Katz und Maus“ gehören. Aufgeteilt in drei Teile, mit drei Erzählstimmen, berichtet „Hundejahre“ vom ersten Weltkrieg bis ins Nachkriegsdeutschland der Wirtschaftswunderzeit. Es geht um Eduard Amsel, jüdischer Herkunft, mit dem Talent gesegnet oder verflucht, lebensechte Vogelscheuchen herzustellen, und es geht um Walter Matern, seinen anfänglichen Freund und Beschützer. Natürlich gibt es weitaus mehr Personal, aber schlußendlich wichtig sind diese Beiden und eine Reihe von Schäferhunden edler Abstammung, die ihre verschiedenen Lebensabschnitte begleiten.

Der erste Teil wird erzählt von einem Herrn Brauchsel/ Brauxel/ Brauksel, dem Leiter eines Bergwerks, in dem statt Kohle zu fördern, Vogelscheuchen hergestellt werden. In passend als „Frühschichten“ bezeichneten Kapiteln wird von der Jugend Amsels und Materns berichtet, vom Beginn ihrer Freundschaft, über ihre Herkunft und ihren Charakter. Sie leben in einem kleinen Dorf in der Weichselniederung, jeder kennt jeden und die ersten Jahre gehen verhältnismäßig friedlich dahin. Grass findet dafür einen sehr eigenen Erzählstil: „Und die Weichsel fließt, und die Mühle mahlt, und die Kleinbahn fährt, und die Butter schmilzt, und die Milch wird dick, bißchen Zucker drauf, und der Löffel steht, und die Fähre kommt, und die Sonne weg, und die Sonne da, und der Seesand geht, und die See leckt Sand…“ Solche Satzbandwürmer findet man im gesamten Buch, mal mehr, mal weniger kompliziert gebaut. Bei Herrn Brauchsel, so stellt es sich später heraus, handelt es sich um Eduard Amsel, der in späteren Jahren den Namen wechselt.

Den zweiten Teil übernimmt ein Harry Liebenau, der in Briefen an seine Cousine Tulla den Faden weiterspinnt. Mit Harry erfindet Grass einen blassen Charakter, einen, der immer nur zuschaut, der nie eingreift, selbst nicht in den schlimmsten Momenten, der sich nicht wehrt und der scheinbar auch kaum Ansätze einer eigenen Meinung hat. Im Gegenzug dazu erschafft Grass mit der Cousine Tulla eine der widerlichsten Gestalten der mir bekannten Literatur. Tulla kennt keine Moral, keine Bindungen, keine Hemmungen und keine Liebe. Besonders eindringlich wird das in einer Szene, in der der Schäferhund Harras auf ihr Kommando hin vergiftetes Fleisch frisst. Der Hund, in dessen Hütte sie nach dem Unfalltod ihres Bruders gewohnt hat, der sie beschützt und sich gekümmert hat, wie es zu dem Zeitpunkt wohl kein Mensch gekonnt hätte. Auf die Frage Harrys nach dem Warum antwortet Tulla nur „Na, darum“ und geht. Genauso wie Harry, dessen Familie der Hund gehört. Harry geht protestlos schlafen. Der Hund im Hof krepiert allein. Dieser Harry nun erzählt von den Hitlerjahren, davon, wie sich Amsel den schönen Künsten zuwendet, dem Ballett, dem Gesang, davon wie Matern erst Kommunist wird und dann in die SA eintritt und davon, wie die Freundschaft von Amsel und Matern ein seltsames Ende findet.

Im dritten Teil kommt Matern zu Wort. Matern, der sich seine Geschichte zurecht dreht, seine Schuld anderen zuweist und sich bei ihnen für von ihm begangenes Unrecht rächt. Dieser Teil ist mit Sicherheit der anstrengendste des Buches. Besonders eine Rundfunkdiskussion verlangt dem Leser einiges ab. Damit schließt sich der Kreis: Opfer, Mitläufer und Täter sind zu Wort gekommen. Am leichtesten zu lesen sind sicherlich Harrys Briefe. Hier findet sich am ehesten so etwas wie Erzählfluss und ein nachvollziehbarer Erzählstrang. Und hier sieht man auch,was für ein begnadeter Erzähler Grass war. Wie er mit leichtem Pinselstrich Szenen entwirft, Charaktere skizziert.

Damit kommen wir zur anfänglichen Frage zurück: für wen schreibt Grass? Ich, als einfach nur Lesende ohne Fachhintergrund, bin nach der Lektüre bitterböse. Da kann einer erzählen, schafft eine eigene Welt mit eigener Sprache, und es reicht ihm nicht. Er muss herumexperimentieren, alles ausprobieren, zusammenwürfeln, was Sprache und Literatur hergeben. Da will einer den Leser nicht lesen lassen, er will ihm die Geschichte entziehen, ihn immer wieder aus dem Fluss holen. Aber warum? Weil er zeigen will, was er alles kann, was für ein schriftstellerischer Tausendsassa er ist? Oder vertraut er seiner Idee nicht? Seinen Figuren, seiner Geschichte? Oder lebt er in einer anderen Welt, in die jemand wie ich nicht folgen kann? Ich werde die Antworten nicht finden, aber was bleibt, ist der Eindruck, einen phantastischen Schriftsteller gelesen zu haben, der nicht möchte, dass der „gemeine“ Leser ihn liest und versteht.