Einsame Seelen

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Abendrot
Kent Haruf
Aus dem Amerikanischen von pociao
erschienen am 23.01.2019 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07045-3

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Holt, Colorado. Dies ist nun das dritte Buch des amerikanischen Autors Kent Haruf, das in dieser fiktiven Kleinstadt spielt und inzwischen fühle ich mich dort ganz heimisch. Das Leben ist nicht einfach in Holt, ganz gewiss nicht. Die Farmer ringsum führen ein hartes Leben, geprägt von Trockenheit und Winden, sind Tag und Nacht im Einsatz. Und auch die Stadtbewohner tragen ihre Päckchen.
Haruf erzählt von gescheiterten Ehen, von Alkohol und Mißbrauch, von Armut und Gewalt. Er erzählt von Betty und Luther, die versuchen, am Rande des Existenzminimums ihre Familie zusammenzuhalten, von DJ, der nach dem Tod seiner Eltern bei seinem Großvater wohnt, von Rose, die als Sozialarbeiterin arbeitet. Auch bekannte Gesichter tauchen wieder auf, die man aus „Lied der Weite“ kennt: die McPheron-Brüder und Victoria, Tom Guthrie und seine Partnerin Maggie.
Lakonisch, realistisch, aber liebevoll, so ist der Blick des Autors auf seine Charaktere. Sie wirken echt, aus dem Leben gegriffen, solchen Menschen begegnet man sicher in zig Kleinstädten der USA. Sie kämpfen um ein menschenwürdiges Leben. Manchmal glückt es, manchmal leider auch nicht. Immer aber lässt Haruf ihnen ihre Würde, urteilt nicht vorschnell, zeigt unterschiedliche Blickwinkel.
Nachdem „Lied der Weite“ mir zu blass erschien, zu wortkarg, bin ich diesmal angekommen in Holt. Und das, obwohl dieser Roman düsterer ist und wirklich schmerzhafte Themen berührt. Andererseits lässt Haruf seinen Charakteren immer einen Hoffnungsschimmer, und sei er noch so klein. Außerdem gibt es die McPherons, die ich wirklich nicht mehr missen möchte. Ganz wunderbare Menschen, die der Autor da zum Leben erweckt hat.
Sechs Romane über Holt hat Kent Haruf geschrieben. Inzwischen bin ich wirklich gespannt auf die noch kommenden drei. Ich hoffe auf ein Wiedersehen mit ein paar Bekannten und auf neue Gesichter, hoffe, ich erfahre, was aus DJ wird und ob Roses Liebesgeschichte anhält. Mir sind Holts Bewohner ans Herz gewachsen, zumindest einige und damit hätte ich nach dem ersten Buch so gar nicht gerechnet. Vielleicht lese ich es in einer ruhigen Minute einfach nochmal. Vielleicht war ich damals einfach noch nicht bereit für Holt, Colorado.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar-

Chandler auf jiddisch

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Die Vereinigung jiddischer Polizisten

Michael Chabon

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer

erschienen am 16.04.2008 als HC und am 16.08.2018 als TB bei Kiepenheuer & Witsch

ISBN des TB 978-3-462-05238-1

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Sitka, Alaska. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Atombombe auf Berlin, durften sich geflüchtete Juden dort mit Erlaubnis der Amerikaner einen eigenen kleinen Staat errichten. Nun soll die Enklave zurück an die USA fallen und die dort wohnenden Juden wären wieder heimat- und staatenlos. In dem Chaos der Abwicklung und inmitten sich auflösender Behörden und Zuständigkeiten geschieht in einem kleinen, schmierigen Hotel ein Mord. Ein junger Schachspieler wird mit einer Kugel im Kopf auf seinem Zimmer aufgefunden. Der zufällig im selben Hotel wohnende Polizist Meyer Landsman beginnt zu ermitteln und sticht dabei in ein Wespennest.
Was für ein grandioser Roman! Einerseits ein Krimi im Stile Chandlers, mit einem Protagonisten, der ähnlich zerbeult agiert wie Philip Marlowe, andererseits aber auch ein Blick auf die unterschiedlichen Strömungen jüdischen Lebens. Die Chassidim und Zionisten kommen dabei eher schlecht weg, verhalten die „Schwarzhüte“ sich doch ähnlich wie die Mafia und haben ihr Netzwerk über ganz Sitka gespannt.
Mit ungeheurer Fabulierlust, viel Wortwitz und genauso viel Einfühlungsvermögen führt uns Chabon durch seine Welt bzw durch Meyer Landsmans Welt. Glaube, Politik, Schach, die große Liebe, Identitätsfragen, Chabon verbindet und mischt diese Themen hemmungslos. Sein Blick ist zugleich zynisch, schwarzhumorig und liebevoll. Das muss einem erst einmal gelingen! Und wenn dann noch Ureinwohnerrecht auf jüdische Befindlichkeiten trifft, wird die Mischung explosiv…
Es ist beeindruckend, wie mühelos Chabon ein Meer durchquert, das klippenreicher nicht sein könnte. Er überschreitet Grenzen und verteilt seine Spitzen hemmungslos in jede Richtung: seien es geldgierige Stammesregierungen, tiefgläubige Mafiosi, gewinnorientierte Amerikaner oder attentatsbereite Zionisten. Und so ganz nebenbei zeigt dieser Roman auch, dass Menschlichkeit und Fanatismus sich ausschließen. Immer.
Wer also Krimis mag, wer… ach, Unfug! Lest dieses Buch, es ist einfach rundherum großartig!

Glaube und Macht

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Gott der Barbaren

Stephan Thome

erschienen 2018 im Suhrkamp Verlag

ISBN 978-3-518-42825-2

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Ich muss gestehen, auf der Landkarte meiner Bildung ist China weitestgehend Terra incognita. Ich weiß sträflich wenig über Geschichte und Kultur dieses an Geschichte und Kultur ja so reichen Landes. Umso dankbarer bin ich für die Einblicke, die Stephan Thomes großartiger Roman dem Leser gewährt. „Gott der Barbaren“ spielt Mitte des 19.Jahrhunderts. Die Qing-Dynastie wankt;  Europäer, vor allem Engländer haben sich in den Hafenstädten angesiedelt; der Opiumhandel blüht; Missionare strömen aus auf Seelenfang. Kulturen prallen aufeinander.
Philipp Johann Neukamp, ein junger Deutscher, empfänglich für Visionen von einem gerechteren Leben, die ihn auf die Barrikaden der März-Revolution in Deutschland geführt haben, gerät auf der Flucht an einen Scharlatan, der ihn mehr schlecht als recht ausgebildet auf einen Missionarsposten nach China schickt. Angekommen, muss er relativ schnell erkennen, dass er weitestgehend auf sich selbst gestellt ist. Zunächst kommt er bei einer anderen Missionsgesellschaft unter und dort in Kontakt mit einem jungen Chinesen, der von einem besseren China und dem Sturz des Kaisers träumt.
Dieser Hong Jin ist Cousin eines Mannes, der meint, der zweite Sohn Gottes und ein Bruder Jesu zu sein. In Visionen sieht dieser sich als Gründer eines neuen Reiches. Bei den ärmlich lebenden Hakka-Nomaden findet er schnell Anhänger, die Bewegung wächst und weitet sich zu einem Aufstand aus. In relativ kurzer Zeit erobern die Rebellen große Gebiete. Hong Jin wird einer der strategischen Köpfe der Rebellion.
Um den Aufstand niederzuschlagen, beruft der Kaiser Zeng Guofan, einen seiner besten Feldherren, der mit der sogenannten Hunan- Armee gegen die Rebellen vorgeht. Gleichzeitig wird der mächtige Oberbefehlshaber aber auch zu einer theoretischen Gefahr für den Thron, der durch die Opiumkriege mit den Briten arg ins Wanken geraten ist. Denn die Briten wollen, gemäß ihrer üblichen Kolonialpolitik, eine Öffnung des Landes für den Handel erzwingen und setzen dafür auch ihre überlegene Militärgewalt ein. James Bruce, Earl of Elgin and Kincardine, wird dafür als Sonderbotschafter einberufen.
Philipp Johann Neukamp, Hong Jin, Zeng Guofan, Lord Elgin. Um diese vier Menschen und ihre unterschiedlichen Sichtweisen dreht sich der Roman. Neukamp und Hong Jin sind die junge Generation, die Verbesserungen einführen möchte, empfänglich für Ideologien, die genau das versprechen, und die ihren Weg verlieren in einem Strudel scheinbar notwendiger Grausamkeiten, die aber, so ihr Glaube, zu einem guten Ziel führen. Selten wurde der Weg in blinden Fanatismus besser beschrieben. Das Gute, das mit dem Schwert erkämpft werden muss, geleitet von einem „Propheten“ mit einem direkten Draht zu Gott – Thome zeigt, wie aus eigentlich friedlichen Menschen „Gotteskämpfer“ werden, bar jeder Gnade und Menschlichkeit. Und wie ein Aufstand außer Kontrolle gerät durch innere Machtkämpfe und Realitätsverlust.
Im Gegensatz dazu stehen zwei altgediente Befehlshaber: Elgin, der von der englischen Krone von Brandherd zu Brandherd um die Welt geschickt wird und doch eigentlich lieber bei seiner Familie weilen möchte und Zeng Guofan, dessen ganzes Leben aus Kriegsführung besteht und der doch eigentlich lieber Gelehrter geblieben wäre. Im Grunde sind sich die beiden müden, aber disziplinierten Kämpen sehr ähnlich, auch wenn sie kulturell Welten trennen. Beide müssen in ihrer herausragenden Stellung einsame Entscheidungen treffen und vor sich selbst vertreten, beide sehnen sich nach Frieden und Ruhe.
Thome gelingt es hervorragend, die doch recht verworrenen politischen Fäden zu entwirren und die verschiedenen Positionen und Beweggründe darzulegen. Die Handlungen der einzelnen Beteiligten werden so nachvollziehbar, die Abläufe verständlich. Und gleichwohl bleibt das Ganze trotz der immensen Informationen über Geschichte, Kultur, Lebensweisen im damaligen China ein überaus spannender Abenteuerroman. Die Einbettung der Handlung in die historisch verbürgten Fakten gelingt mühelos, der Lesefluss ebenso.
Selten hat mich ein historischer Roman so begeistert. Die ruhige Erzählweise, die vielen Einblicke in das Denken der Protagonisten und die im Gegensatz dazu sich überschlagenden Ereignisse und handlungsbedürftigen Brennpunkte ergeben eine perfekte Komposition. Die Nominierung für die Shortlist des Deutschen Buchpreises ist daher mehr als verdient. Und wäre meine Meinung ausschlaggebend, würde Thome diesen Preis für seinen herausragenden Roman auch bekommen.

Ich danke dem Suhrkamp Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Besprechungen dieses Romans:

letteratura https://letteraturablog.wordpress.com/2018/09/09/wir-wissen-nie-in-wessen-dienst-wir-wirklich-stehen-stephan-thome-gott-der-barbaren/
exlibris https://exlibris-jmalula.com/2018/09/14/gott-der-barbaren/

Schweigen

Und die Braut schloss die Tuer von Ronit Matalon

Und die Braut schloss die Tür

Ronit Matalon

Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer

erschienen 2018 im Luchterhand Literaturverlag

ISBN 978-3-630-87564-4

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An ihrem Hochzeitstag schließt sich die Braut Margi in ihrem Zimmer ein und verweigert damit die Schließung der Ehe. Draußen vor der Tür versuchen ihre Mutter Nadja und ihr Verlobter Matti mit Margi Kontakt aufzunehmen. Doch die Braut schweigt. Aus dieser Situation macht Ronit Matalon eine bittersüße Komödie, seziert auf wenig Seiten und trotzdem präzise eine Familie, stellvertretend für die Gesellschaft. Die Braut schweigt, und jeder geht anders damit um, muss sich allein mit dieser Situation auseinandersetzen, nach Gründen suchen und nach Lösungen. Letztere fallen so unterschiedlich aus wie die Charaktere, die sie ersinnen.
Während Matti zwischen Verzweiflung und Aggression schwankt und droht, die Tür gewaltsam zu öffnen, organisiert seine Mutter eine Psychologin, die Margi quasi durch die Tür therapieren soll. Die Brautmutter ist mit der Situation gänzlich überfordert und läßt sich von einer Woge der Verzweiflung, die ihre Wurzeln in einem vergangenen Verlust hat, überrollen. Und dazu kommen der Gesichtsverlust den geladenen Gästen gegenüber und natürlich das in die Hochzeitsfeierlichkeiten investierte Geld.
Das alles beschreibt Matalon so böse wie witzig. Und lässt trotzdem auch leise Momente zu, die den Leser trotz aberwitzigster Situationen mit den Figuren fühlen lassen, etwa, wenn Matti sich vor der Tür einrollt, um Margi näher zu sein.
„Und die Braut schloss die Tür“ ist ein intelligent komponierter Kurzroman, den man sich in seinem Bilderreichtum hervorragend auf der Bühne oder als Film umgesetzt vorstellen kann. Einfühlsamkeit, schwarzer Humor und Gesellschaftskritik halten sich hier wunderbar die Waage.
Leider ist dieser Roman der letzte Ronit Matalons, die Ende letzten Jahres verstarb. Ich würde mich freuen,  wenn ihre vorhergehenden Werke, die bisher nur teilweise übersetzt wurden, auch dem deutschen Leser zugänglich gemacht würden. Denn eines ist sicher, Ronit Matalon war eine hochinteressante Stimme des modernen Israels und nicht umsonst dort sehr bekannt.

Ich danke dem Luchterhand Literaturverlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Besprechungen:

erdhaftig schmökert https://erdhaftigschmoekert.wordpress.com/2018/08/26/und-die-braut-schloss-die-tur/
missmesmerized  https://missmesmerized.wordpress.com/2018/08/20/ronit-matalon-und-die-braut-schloss-die-tuer/

Ein Juwel

Landpartie von Eduard Keyserling

Landpartie – Gesammelte Erzählungen

Eduard von Keyserling

erschienen 2018 im Manesse Verlag

ISBN 978-3-7175-2476-2

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Es gibt Schriftsteller, deren Werk völlig unverdient aus der Aufmerksamkeit gerät, in irgendeiner Versenkung verschwindet und dort sanft einstaubt. Und manchmal, zum Glück!, wird so ein Schriftsteller mit seinem Werk wieder entdeckt, entstaubt und den Lesern neu vorgestellt. Eduard von Keyserling ist so ein Schriftsteller, einer der eigentlich in die Riege der großen deutschsprachigen Erzähler der Jahrhundertwende gehören sollte, in einem Atemzug genannt mit beispielsweise Fontane oder Storm oder den Manns, Heinrich und Thomas.
Der Manesse Verlag hat nun den 100. Todestag von Keyserlings am 28.September 2018 zum Anlass genommen, einen Band mit gesammelten Erzählungen herauszubringen. Dort sind nun alle auffindbaren Erzählungen und Novellen versammelt, mit Kommentar, Zeittafel, Bildteil und einem Nachwort von Florian Illies. Es wurde scheinbar sehr sorgsam recherchiert, Übersetzungen werden genannt und sogar Verfilmungen. Das ist zum einen informativ und zum anderen schön, wenn man sich noch nicht so wirklich trennen will von diesem Buch und seiner besonderen Stimmung.
Eduard von Keyserling wurde 1855 in ein altes kurländisches Geschlecht geboren und bleibt in seinen Erzählungen in weiten Teilen der Adelswelt verhaftet. Häufig geht es um den jugendlichen Überschwang gegenüber dem gegebenem Regelwerk, um unstatthafte Liebe. Aber selten wurden diese Motive so elegant und melancholisch behandelt, so bar jeden Schmalzes. Und so modern, denn von Keyserling scheut sich nicht gesellschaftliche Problematiken zu bearbeiten, so zum Beispiel die Stellung der Frau, die häufig genug wenig eigenen Willen zugestanden bekommt und im goldenen Käfig lebt.
Obwohl die Erzählungen, wie der Kommentar beweist, zeitlich und örtlich eingeordnet werden können, wirken sie wie aus der Zeit gefallen, erzählen von einer verlorenen Welt. Wobei der Autor durchaus andeutet, warum diese Welt untergeht, untergehen muss. Es ist spannend zu verfolgen, wie die Erzählungen über die Jahre sich verändern, wie es erst um Angehörige des Landadels geht, mit bestimmten Rechten, mit Gütern und Traditionen und wie nach und nach diese Rechte und Güter und Traditionen verloren gehen, so dass der Band mit einem herrischen Bankdirektor endet, der zwar noch ein „von“ im Namen trägt, aber von adeligem Verhalten keine Spur mehr aufzeigt.
Was all diesen Erzählungen gemeinsam ist, das sind die Stimmungen, die von Keyserling mit Worten schaffen konnte. Seine Beschreibungen der Natur, der Gärten, der Jahreszeiten schaffen nicht nur den Rahmen für die Handlung, sondern geben die passende Färbung. Häufig befinden wir uns im Übergang vom Sommer zum Herbst, wenn die Blumen am prächtigsten blühen, aber der nahende Verfall sich schon ankündigt oder im Übergang zwischen Tag und Abend, wenn die Stimmung stiller wird und die Natur durchatmet. Die Abstufungen sind unglaublich fein, manchmal ist es nur die Beschreibung eines Blumenstraußes in den Händen der Heldin, die dem aufmerksamen Leser den Ausgang schon andeutet.
Es gibt Autoren, wo man nach jeder Erzählung eine lange Pause braucht. Hier habe ich geradezu rauschartig gelesen, weshalb im Nachhinein der Band auf mich wirkt wie ein langer Sommer, mit Bienengesumm und Rosenduft, der unwiderruflich beendet wird durch einen Krieg, der weitere Sommer dieser Art für immer unterbindet.
Es bleibt zu hoffen, dass von Keyserling nun ins Gedächtnis der Leser zurückkehrt, denn seine bildreiche und doch schnörkellose Sprache ist in ihrer Feinsinnigkeit schlicht wunderschön.

Ich danke dem Manesse Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

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Der Trafikant

Robert Seethaler

erschienen 2013 im Verlag Kein & Aber

ISBN 978-3-0369-5909-2

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1937. Der junge Franz muss sein Heimatdorf verlassen, in dem er sehr verwurzelt ist und seine Mutter zurücklassen, zu der er ein sehr enges Verhältnis hat. Er wird Lehrling bei einem Bekannten der Mutter, dem Otto Trsnjek, der in Wien eine kleine Trafik leitet. Für Nichtösterreicher: eine Trafik, das ist eine Art Tabak- , Rauchwaren- und Zeitschriftenladen. Ein Kunde dieser Trafik ist Siegmund Freud, zu dem Franz tatsächlich einen Kontakt aufbaut und der Franz bei seiner unglücklichen Liebe zur Varietetänzerin Anezka Rat geben kann. Bis dahin ein Roman über das Erwachsen werden in der Großstadt, über den Jungen vom Dorf im mondänen Wien. Aber schon die Jahreszahl 1937 verrät es, die Zeiten sind wenig geeignet, um in Frieden zu leben.
Die Nationalsozialisten übernehmen die Regierung, Freud ist als Jude ein Geächteter, der unter Beobachtung steht, Otto Trsnjek wird plötzlich verhaftet und verschwindet spurlos und Franz muss nun allein herausfinden, wie man in solchen Zeiten ein ehrlicher Mensch bleiben kann.
Robert Seethaler hat mit „Der Trafikant“ ein sehr leises, eindringliches Buch geschrieben. Sein Franz ist eine reine Seele, die ganz unbeschrieben und weiß in Wien landet, aber einer inneren Moral folgt, die ihn den Weg des Guten einschlagen lässt in einer unguten Zeit. Franz ist unpolitisch, er sieht nur den einzelnen Menschen. Und er ist treu bei den Menschen, die sein Herz gewonnen haben.
Der Roman beweist, dass große Literatur nicht immer in dicken Wälzern daher kommen muss oder mit kompliziertem Innenleben. Wenn einer schreiben kann wie Seethaler, dann ist ein schmaler Band so intensiv und reichhaltig wie bei manch anderem eine mehrbändige Saga. Und trifft einen still und präzise ins Herz.

 

„Ich hab alles erlebt.“

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Der Gott jenes Sommers

Ralf Rothmann

erschienen 2018 im Suhrkamp Verlag

ISBN 978-3-518-42793-4

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In letzter Zeit sind ein Reihe hervorragender Romane erschienen, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg bzw dem Leben im Nationalsozialismus beschäftigen und zwar aus deutscher Sicht. Ich finde das sehr gut und richtig so, denn nur, wenn man sich erinnert, wenn aus „den Deutschen“ Einzelschicksale werden, wenn Menschen agieren und nicht eine anonyme Masse, kann man das Geschehene verarbeiten und einen persönlichen Bezug herstellen. Und das ist gerade für die heutigen Generationen immens wichtig, herrscht doch in den meisten Familien immer noch betretenes Schweigen darüber, was Großvater oder Großmutter wohl zu der Zeit getan haben, gibt es zwar Zahlen- und Zeittafeln im Geschichtsunterricht, aber nur selten die Frage, wie ist es in meinem Heimatort gewesen, was genau ist da eigentlich passiert.
Ralf Rothmann nun hat so einen Roman geschrieben, der nicht im Nirgendwo spielt, sondern auf dem Lande in der Nähe von Kiel. Dorthin flüchtet die zwölfjährige Lisa mit Mutter und Schwester 1945 aus der zerbombten Stadt. Dort ist das Gut ihres Schwagers Vinzent, eines SS-Offiziers, wo sie unterschlüpfen dürfen. Und dort lässt Rothmann auf engstem Raum mit kleinem Personal ein fast klassisches Drama entstehen.
Während Lisa sich das erste Mal verliebt, beginnt ihre lebenslustige Schwester eine Affaire mit Vinzent, die die Familie letztendlich in den Abgrund reißen wird. Und so kann Lisa am Ende des Krieges sagen „ich hab alles erlebt“. Und überlebt.
Der Autor zeigt, wie Hass und Eifersucht Familienbande zerstören, wie ideologischer Glaube und die Macht zur Willkür jegliche Moral vernichten. Wenn man ein überzeugter Herrenmensch ist, dann fehlt jegliches menschliche Maß, dann steht man über der Menschlichkeit, bietet sich die Möglichkeit zu hemmungslosem Machtmißbrauch, denn die anderen haben es ja nicht besser verdient.
Wie die Hitlergetreuen damals alle menschlichen Werte untergraben haben, eine Atmosphäre von Angst und Denunziation geschaffen haben, das zeigt dieser Roman sehr leise und trotzdem unglaublich eindrücklich. Man sieht das Große im Kleinen, die Abläufe in Deutschland anhand einer Stadt, eines Dorfes, eines Gutes, einer Familie unter der Lupe. Wie man eben plötzlich der eigenen Tochter, Schwester, dem Schwager, Schwiegersohn nicht mehr trauen kann und wie schleichend diese Machtverhältnisse sich verlagert haben. Man sieht aber auch, wie sehr die Menschen versucht haben, sich den Alltag zu erhalten, ein Stück Normalität.
In der heutigen Zeit und besonders nach den Ereignissen in Chemnitz, wünsche ich diesem Roman viele Leser. Leser, die mit der Lektüre begreifen, dass diese Atmosphäre doch wirklich nichts sein kann, was man sich für sich und sein Land erneut wünschen kann. Die erkennen, dass Menschlichkeit eines unserer höchsten Güter ist.

 

Weitere Besprechungen dieses Romans:

buchrevier https://buchrevier.com/2018/07/20/ralf-rothmann-der-gott-jenes-sommers/
literaturleuchtet https://literaturleuchtet.wordpress.com/2018/07/20/ralf-rothmann-der-gott-jenes-sommers-suhrkamp-verlag/
LiteraturReich https://literaturreich.wordpress.com/2018/06/12/ralf-rothmann-der-gott-jenes-sommers/

Die Brodie-Clique

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Die Blütezeit der Miss Jean Brodie

Muriel Spark

Aus dem Englischen von Andrea Ott

erschienen 2018 im Diogenes Verlag

ISBN 978-3-257-07008-8

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Dieses 1961 erstmals erschienene Buch ist schlichtweg alterslos. Es ist spritzig, charmant, witzig und auf elegante Weise böse und das alles auf nur 261 Seiten. Selten habe ich ein so perfekt komponiertes Schmuckstück gelesen, mit so vielen Facetten auf so wenig Seiten.
Die Lehrerin Jean Brodie pflegt einen eher unkonventionellen Unterrichtsstil. Sie bevorzugt offen eine Reihe Schülerinnen, die sogenannte Brodie-Clique, die sie durchaus auch privat zum Tee einlädt, sie erzählt lieber Ankedoten aus ihrem Leben als den Unterrichtsstoff durchzuarbeiten, sie beeinflusst und formt die Mädchen ungehemmt und manipuliert sie nach ihren Wünschen. Bisher allerdings konnte die Schulleitung ihr noch kein Fehlverhalten nachweisen. Auch Miss Brodies Privatleben entspricht wenig den Gepflogenheiten ihrer Zeit. Sie liebt den verheirateten Kunstlehrer und beginnt mit dem Musiklehrer ein Verhältnis. Doch ihre Blütezeit nähert sich dem Ende, eingeleitet durch einen Verrat aus ihrem engsten Umkreis.
Man mag sie, die charismatische Miss Brodie mit dem römischen Profil. Und trotz ihrer übergriffigen Manipulationen bedauert man ihren Niedergang. Denn eine gewisse Freiheit des Denkens und Handelns hat sie ihren Schülerinnen durchaus vermittelt. Sie ist eine Art dunkler Mary Poppins, eine Miss Poppins, die ihre Macht hemmungslos ausnutzt und das weniger zum Guten ihrer Zöglinge, denn zum eigenen Vorteil. Fasziniert vom Faschismus und von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt, kommt sie wie ein Wirbelsturm in die Leben ihrer bevorzugten Schülerinnen und formt sie nach ihrem Willen. Die Brodie-Clique wird ein Leben lang, diese Unterrichtsstunden als prägend empfinden.
Muriel Spark wechselt die Zeitebenen so oft wie andere ihre Unterröcke. Sie springt vor und zurück, berichtet den Werdegang der Mädchen, erzählt von ihrer Herkunft und Zukunft – und das völlig unaufgeregt und vor allem ohne Hektik. Jedes Wort ist dort, wo es hingehört, jeder Sprung bringt auch den Leser weiter, ein Juwel der Formulierungskunst. Selbst Sex wird unverklemmt und trotzdem damenhaft abgehandelt, und genau genommen gibt es tatsächlich recht viel davon, erstaunlich viel für einen Roman von 1961. Mich aber hat am meisten beeindruckt, mit welcher Leichtigkeit die Autorin Autoritätsmissbrauch darstellt,ohne erhobenen Warnfinger aber mit Nachdruck. Denn man mag sie, die Miss Jean Brodie in der Blützeit ihrer Jahre, und das ist das Gefährliche.

Ich danke dem Diogenes Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Besprechungen dieses Romans:

1001 Bücher https://1001buecher.wordpress.com/2017/07/26/buch-71-muriel-spark-die-bluetezeit-der-miss-jean-brodie/

„Wha loues the laun, awns the laun, an the laun awns him“

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Zurück nach Fascaray

Annalena McAfee

Aus dem Englischen von Christiane Bergfeld

erschienen 2018 im Diogenes Verlag

ISBN 978-3-257-07020-0

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Ich bin sprachlos, was recht selten passiert. Wie schreibe ich über dieses Buch? Es ist völlig verrückt, es ist genial, ich bin schockverliebt? Ja, das trifft es am ehesten. Hiermit stelle ich mein Jahreshighlight 2018 vor, denn hiernach kann nichts Vergleichbares mehr kommen.
Aber von vorn: bei Durchsicht der Vorschau fiel mir dieses Buch auf. „Fascaray“. das klang gut, abgelegene schottische Insel, Nationaldichter, Identitätssuche waren die Stichworte, also habe ich mir das Ganze notiert. Und dann erschien es nicht. Für Mai war es angekündigt, jetzt im August ist es erst soweit, mit dem Warten wurde ich immer gespannter. Und dann kam der Tag, an dem der Postmann mir ein Diogenes-Päckchen in die Hand drückte, und heraus kam… ein Ziegelstein von einem Buch. Mit hauchdünnen Seiten. 951 Seiten, um genau zu sein.
Auf diesen 951 Seiten erzählt Annalena McAfee die Geschichte des fiktiven Eilands Fascaray, des fiktiven Dichters Grigor McWatt und die von Mhairi McPhail, die beauftragt wurde, ein McWatt-Museum auf der Insel aufzubauen. Das gelingt ihr derart phantastisch, dass ich erst einmal irritiert nach einer schottischen Insel namens Fascaray gesucht habe. Der Leser findet in diesem Buch Ausschnitte aus dem McWatt-Kompendium, einer Art Tagebuch, Teile von McWatts Werk in Deutsch und Schottisch, Kochrezepte, Bücherlisten, Ausschnitte aus Mhairis Arbeit über den Dichter, kurz eine komplette eigene Welt mitsamt Pflanz- und Tierlisten. Überhaupt diese Listen mit schottischen Ausdrücken zur Wetterlage, zur Flora und Fauna, grandios!
Zugegeben, man muss ein wenig irre sein, um sich durch all das durchzuarbeiten, man muss Schottland mögen, es hilft zumindest, und die schottische Sprache. Das trifft bei mir alles zu, daher bin ich selig in diesem Buch verschwunden und mit rollendem R und Rachen-Ch wieder hervorgekommen.
Aber dieses Buch ist nicht nur eine Liebeserklärung an Schottland, es wirft auch die Frage auf, was Heimat ist und was die eigene Identität eigentlich ausmacht. Macht einen ein unbekannter Urgroßvater zum Schotten oder doch auch die Liebe zur Kultur?
Und so ist „Zurück nach Fascaray“ für mich ein unglaublich intelligentes, liebevolles und vollkommen verrücktes Projekt, ein Roman, bei dem ich jede seiner 951 Seiten geliebt habe. Zum Abschluß möchte ich mich noch bei Christiane Bergfeld für die wunderbare Übersetzung bedanken, denn das ist bestimmt kein Spaziergang gewesen.
Und ein kleiner Tip am Rande: wer ein wenig sucht, kann im Internet eine Aufnahme des Liedes finden, mit dem Grigor McWatt berühmt geworden ist : Hame tae Fascaray. Den Background bilden Annalena McAfees Sohn und ihr Mann Ian McEwan.

Ich danke dem Diogenes Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Herta und Georg

Loschuetz_Paar

Ein schönes Paar

Gert Loschütz

erschienen 2018 im Verlag Schöffling & Co.

ISBN 978-3-89561-156-8

Longlist für den deutschen Buchpreis 2018

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Mein erster gelesener Roman von der diesjährigen Longlist für den Deutschen Buchpreis. Und ganz sicher nicht der schlechteste Einstieg in diese Liste.
Gert Loschütz erzählt von einer lebenslangen Liebe, einer Liebe, die trotz Trennung nicht endgültig loslassen kann, von zwei Menschen, die auf ewig verbunden bleiben.
Herta und Georg lernen sich kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs kennen, eine junge Verkäuferin und ein Berufssoldat. Obwohl beider Eltern die Verbindung nicht schätzen, werden die Beiden ein Paar. Sie bekommen einen Sohn, Philipp genannt Fips, und richten sich nach dem Krieg in der DDR ein. Doch weil das Leben dort kein Zuckerschlecken ist und ein Fehler schnell gemacht, ist die junge Familie irgendwann gezwungen, in den Westen zu fliehen. Dort zerbricht ihre Ehe, Herta läßt ihren Sohn bei Georg zurück und verschwindet jahrelang. Nur Postkarten geben in unregelmäßigen Abständen ein Lebenszeichen.
Loschütz versteht sein Handwerk. Stück für Stück setzt der Leser gemeinsam mit Philipp Hertas und Georgs Werdegang zusammen, wird man zu den wichtigen Kreuzungen in ihrer beider Leben geführt. Oft bleibt es dem Leser dabei selbst überlassen, sich das „Wie“ oder „Warum“ zu denken, vieles bleibt vage, einiges offen. Aber welcher Sohn weiß schon alles über das Leben seiner Eltern?
Der Roman ist wohl durchdacht, wohl formuliert und trotzdem sprang bei mir der Funke nicht über. Vielleicht weil mir das Handeln der Personen zu unverständlich war? Stellt ein Sohn seiner Mutter, die über Jahrzehnte verschwindet, wirklich keine Fragen, wenn sie urplötzlich wieder auftaucht? Und auch nicht dem Vater über die Gründe dieses Verschwindens, der Trennung? In jungen Jahren vielleicht nicht, aber später, als Heranwachsender, als Teenager?
Und dann wirkt der Text zu poliert auf mich, ja, tatsächlich zu professionell. Mir fehlt der Lebenshauch in der brillanten Konstruktion. Sprachlich wunderbar elegant, bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, ist eigentlich im Überfluss alles da, was ein Meisterwerk benötigt. Aber wirklich berührt hat mich der Roman nicht. Auf der Longlist steht er trotzdem definitiv verdient und hat sicherlich auch gute Chancen für die Shortlist.

Weitere Besprechungen:

LiteraturReich https://literaturreich.wordpress.com/2018/07/05/gert-loschuetz-ein-schoenes-paar/
Zeichen&Zeiten https://zeichenundzeiten.com/2018/02/06/getrennt-gert-loschuetz-ein-schoenes-paar/
Leseschatz https://leseschatz.com/2018/02/12/gert-loschuetz-ein-schoenes-paar/