Machtspiele

Der Neue von Tracy Chevalier

Der Neue

Tracy Chevalier

Aus dem Englischen von Sabine Schwenk

erschienen 2018 im Knaus Verlag

ISBN 978-3-8135-0671-6

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Und wieder ein neuer Band im Hogarth Shakespeare Project. Diesmal ist es Tracy Chevaliers Bearbeitung von „Othello“. Die Autorin selbst war mir kein Begriff, ihren Bestseller „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ habe ich nicht gelesen, andere Bücher auch nicht. Vielleicht wird sich das ändern, denn ihre Version von „Othello“ hat mir wirklich gut gefallen. Ich mag ihre Art zu schreiben, zu beschreiben, den Fluß, die Sprache.

Osei, Sohn eines ghanaischen Diplomaten, kommt im letzten Monat des Schuljahres in eine neue Klasse. Eigentlich unnötig, denn der Wechsel zur Junior High steht bevor und die Klassen werden somit umverteilt. Osei hat einige Erfahrung mit Schulwechseln, für einen Diplomatensohn ist das unvermeidbar. Erfahrungen hat er auch damit, das einzige farbige Kind zu sein, er weiß, wie er sich zu verhalten hat, was zu beachten ist.
Mit seiner Ankunft verschieben sich Interessenströme auf dem Schulhof, etwas, das Ian, der diese Strömungen zu kontrollieren vermeint, nicht zulassen kann. Und so hat Osei nur durch den Umstand seiner Ankunft einen geheimen Feind…

Tracy Chevalier verlegt Shakespeares Tragödie auf den Schulhof einer Elementary School in den 1970er Jahren. Dabei unterlaufen ihr in der Anlage des Romans zwei Schnitzer, die ich gleich zu Anfang erwähnen möchte. Zum einen sind die Schüler dieses Romans zehn, elf Jahre alt, ihr Verhalten entspricht aber dem von ca Dreizehnjährigen. Aufgefallen ist mir dies nur, weil ich nachgeschlagen habe, in welchem Alter eigentlich die Junior Highschool in den USA beginnt. Wenn man sich also vorstellt, man hätte es mit Teenagern zu tun, dann liest sich der Roman weitaus schlüssiger. Zum anderen geht es um die Rassentrennung und ihre Aufhebung. Die erfolgte 1964. Und nicht friedlich. Noch in den Siebziger Jahren wurden farbige Schüler teilweise mit Bussen in weit entfernte Schulen gefahren, um eine „gleichmäßige Mischung“ zu gewährleisten. Kein farbiger Vater, keiner der Rassismus am eigenen Leib erlebt hat, hätte sein Kind an eine rein weiße Schule geschickt, nicht für einen Monat bis zum Schulwechsel. Das wäre ein lebensgefährliches Unterfangen gewesen, ein gänzlich unnötiges Risiko.

Von diesen beiden grundlegenden Schnitzern abgesehen, ist der Roman sehr dicht geschrieben. Gemäß den aristotelischen Regeln der Einheit von Zeit und Ort spielt sich alles an einem Tag in der Schule ab. Dadurch ist der Handlungsrahmen sehr eng gesteckt, die Handlung intensiv und unverwässert durch Nebenhandlungsstränge. Alles baut sich, zumindest für mich, schlüssig aufeinander auf, auch wenn das Ende dann recht plötzlich kommt.
Als Mutter, und „Othello“ kennend, habe ich den Roman mit einem stetig wachsenden Stein im Magen gelesen. Man weiß ja, was kommt, kommen muss, und hofft doch darauf, dass in diesem Falle irgendjemand rechtzeitig eingreift, dass es nur dieses eine Mal gut ausgeht.
Heutzutage benimmt sich ja kaum noch jemand tragödiengemäß, daher ist es eine großartige Idee, Kinder auf der Schwelle zum Jugendlichen zu wählen, Teenager, die ja doch immer zwischen tiefster Trauer und höchster Freude schwanken, die sich emotional noch nicht eingependelt haben, die einen Tag mit Puppen spielen und am nächsten verliebt sind „auf immer und ewig“. Nur dort können Gefühle in so kurzer Zeit so hoch kochen, kann erste Liebe in abgrundtiefe Verzweiflung umkippen innerhalb eines Tages.

Und so kann ich sagen, ganz aus dem Bauch heraus, ohne Sprache, Stil, Aufbau etc mit den anderen Büchern der Reihe zu vergleichen, dass dieser Band für mich der bisher schlüssigste ist, der, der mich am meisten gepackt hat, der, der für mich am ehesten den Kern der Sache erfasst hat, nämlich an die Wurzel der Urgefühle des Menschen zu gehen und das, was dort lauert, in Worte gefasst ans Tageslicht zu bringen.

Ich danke dem Knaus Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.

Weitere Besprechungen zu diesem Buch:

BritLitScout https://britlitscout.wordpress.com/2018/04/16/othello-auf-dem-pausenhof/

Kiss me, Kate!

Die stoerrische Braut von Anne Tyler

Die störrische Braut

Anne Tyler

Aus dem Englischen von Sabine Schwenk

erschienen als TB 2018 im Penguin Verlag

ISBN 978-3-328-10181-9

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Ein weiterer Band aus dem Hogarth Shakespeare Project hat den Weg zu mir gefunden, und zwar Anne Tylers Version von „Der Widerspenstigen Zähmung“.
Für die, die noch nicht davon gehört haben: acht namhafte Autoren interpretieren innerhalb des Projekts ein Stück Shakespeares neu. So widmet sich beispielsweise Edward St Aubyn König Lear oder Margaret Atwood dem Sturm. Jede Interpretation bisher war auf ihre Art spannend, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
„Die störrische Braut“ ist dabei sicherlich die heiterste Version eines Shakespeare-Stückes. Das Buch liest sich wie eine luftige Sommerliebesgeschichte mit leicht verschrobenem Personal.

Kate und ihre Schwester Bunny wachsen nach dem Tod ihrer Mutter bei ihrem Vater auf, einem nur in der Arbeit aufgehenden Wissenschaftler. Kate führt den Haushalt, erzieht ihre jüngere Schwester und arbeitet zusätzlich noch in einem Kindergarten. Ihr Leben fließt in den ewig gleichen Bahnen dahin, bis ihr Vater auf die Idee kommt, sie mit seinem russischen Mitarbeiter Pjotr verheiraten zu wollen, weil dessen Visum ausläuft. Im Grunde eine Zumutung, und Kate weigert sich strikt. Dummerweise findet sie Pjotr eigentlich immer anziehender…

Ich muss gestehen, ich kenne keine weiteren Bücher von Anne Tyler, obwohl sie zu den bekanntesten amerikanischen Schriftstellerinnen zählt. In diesem Falle ist ihr eine fröhliche und locker-flockige Umsetzung des Stoffes gelungen, mit diversen Anspielungen auf das Musical „Kiss me, Kate“ von Cole Porter. Ihre Charaktere hat sie liebevoll mit sehr eigenen Zügen ausstaffiert und ihr „Fleischpapp“ wird mir noch lange mit Schaudern in Erinnerung bleiben.
Kate wandelt sich zusehends von der leicht verbiesterten, einsamen Jungfer zur liebenden, fürsorglichen Ehefrau. Das ist vergnüglich zu lesen, aber ist es auch zeitgemäß? Natürlich kann man von einem Shakespeare-Stück keine modernen Ansichten erwarten, und der Komödiencharakter entsteht ja durch die Wandlung der widerspenstigen Katharina, aber die originale Zähmung sieht man meistens in ihrem zeitlichen Kontext. Hier handelt es sich um eine Neuinterpretation und da wäre es sicherlich erlaubt gewesen, jahrhundertealte Wertvorstellungen in Frage zu stellen oder zumindest ironisch zu brechen. In Ansätzen ist das sicherlich vorhanden, wenn zum Beispiel zum Schluß das gleichberechtigt arbeitende Ehepaar gezeigt wird. (Ich denke, ich verrate hier nicht zuviel, das Ende von „Der Widerspenstigen Zähmung“ ist ja schon länger kein Geheimnis mehr.) Aber ich hätte mir davon durchaus mehr gewünscht.
So ist „Die störrische Braut“ eine leichte, in Teilen sogar seichte Liebeskomödie mit wenig Tiefgang geworden, ohne das Original großartig zu hinterfragen. Aber es reicht bei diesem Stück eben nicht, nur das Kleid gegen eine Jeans zu tauschen. Mir zumindest nicht.

Ich danke dem Penguin Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.

Weitere Meinungen zu diesem Buch:

BritLitScout https://britlitscout.wordpress.com/2017/08/04/the-hogarth-shakespeare-project-i/
schiefgelesen https://schiefgelesen.net/2017/07/08/shakespeare-the-taming-of-the-shrew-anne-tyler-vinegar-girl/
Literaturlese https://literaturlese.wordpress.com/2017/05/19/anne-tyler-die-stoerrische-braut/
Lillis Buchseite https://lillisbuchseite.wordpress.com/2017/02/01/rezension-zu-die-stoerrische-braut-von-anne-tyler/

Ohn‘ Macht

Dunbar und seine Toechter von Edward St Aubyn

Dunbar und seine Töchter

Edward St Aubyn

Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen

erschienen 2017 im Knaus Verlag

ISBN 978-3-8135-0689-3

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Ein weiterer Band des Hogarth Shakespeare Projects im Knaus Verlag, der vierte für mich inzwischen. Dabei waren bisher Margaret Atwood, Jeanette Winterson und Howard Jacobson. Herausgekommen sind sehr unterschiedliche Interpretationen von Werken Shakespeares, mal als miterlebte Theateraufführung, mal fast soapartig, mal ein Diskurs zum Judentum gestern und heute, aber immer spannend, interessant oder auch lehrreich.
Nun also Edward St Aubyn, einer der besten britischen Schriftsteller derzeit, bekannt dafür, den Finger in Wunden zu legen, die sonst eher im Verborgenen schwelen und kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Er hat „King Lear“ gewählt, ein Familiendrama in höchsten Kreisen, also eigentlich für ihn fast ein Heimspiel.

Der Medienmogul Dunbar, Vater von drei Töchtern, gibt den Firmenvorsitz an zwei seiner Töchter ab und verstößt die dritte. Diese Entscheidung war falsch, denn Abigail und Megan schieben ihn in ein Sanatorium ab und versuchen, Pläne durchzusetzen, die gar nicht in Dunbars Sinne sind. Dunbar entflieht. Und nun hängt sein Leben davon ab, wer ihn zuerst findet, die ihn liebende Dritte im Bunde, Florence, oder die beiden intriganten Biester, die vor nichts zurückschrecken.
St Aubyn hatte definitiv Spass. Megan und Abigail sind die bösen Schwestern Cinderellas, getuned für die heutige Zeit, Karikaturen ihrer Art. Zehen fahren sie lieber anderen ab, statt sie selbst zu verlieren. Ihr Umfeld ist ebenso überzeichnet, der Arzt, der sein eigener bester Kunde ist, der Latino-Bodyguard, der für seine Süße auch mordet. Dagegen bleibt Florence blass. Was soll sie auch machen, sie ist die Gute im Stück und das Gute schillert nie so facettenreich wie der Gegenpart. Das muss auch der Autor so gesehen haben, denn rasanter sind definitiv die Szenen mit den Teufelsschwestern. Dunbar selbst ist gebeutelt, unter Medikamenteneinfluss und verstört von den Ereignissen. Ein armer, alter Mann, dessen Welt zerplatzt ist und der nun versucht,die Scherben zu finden.
St Aubyn ist trotz aller Modernisierungen und Anpassungen recht nah am Stoff geblieben, der Fokus bleibt auf der Familie, darauf, was Macht in den falschen Händen ausrichten kann und wie man gerade denen besonders gut weh tun kann, die einem am nächsten sein sollten, zeigt aber auch die Leere, die diejenigen erfüllt, die Macht besessen und verloren haben.

„Dunbar und seine Töchter“ ist sicherlich das Werk aus der Reihe, das am leichtesten zugänglich ist, für das man eigentlich keine Shakespeare-Kenntnisse braucht, weil es auch eigenständig funktioniert. Keine Werkanalyse, keine anstrengenden Monologe, keine mühsamen Adaptionsversuche. St Aubyn hat einen bösen Unterhaltungsroman über die Medienwelt zum Einen und dysfunktionale Familien zum Anderen geschrieben und ist damit wahrscheinlich sehr nah dran an Shakespeares Intentionen. Gutes Theater, das durch die Darsteller lebt, ohne aus dem Zylinder gezogene Kaninchen, dafür mit einer großen Portion menschlicher Abgründe. Leider allerdings auch mit ein paar Längen. Das Tempo, das das Duo Infernale vorlegt, können die restlichen Mitwirkenden nicht halten. Das ist schade, fällt im Gesamtverlauf aber gar nicht so sehr ins Gewicht.

Eine leichtfüssige Umsetzung eines schwerer wiegenden Themas, gute Unterhaltung und dafer definitiv lesenswert.

Ich danke dem Knaus Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Rezensionen zu dem Buch findet ihr hier:

LiteraturReich https://literaturreich.wordpress.com/2017/12/30/edward-st-aubyn-dunbar-und-seine-toechter/
BritLitScout https://britlitscout.wordpress.com/2017/11/20/king-lear-als-medienmogul/

 

Väter und Töchter

Shylock von Howard Jacobson

Shylock

Howard Jacobson

Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence

erschienen 2016 im Knaus Verlag

ISBN 978-3-8135-0674-7

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„Shylock“ ist ein Band des Hogarth Shakespeare Projects, innerhalb dessen namhafte Autoren Shakespeare-Stücke neu interpretieren.
„Der Kaufmann von Venedig“ – keines von Shakespeares leicht zu fassenden Werken. Zu schablonenhaft allen Vorurteilen entsprechend ist die Figur des Shylock, des Geldverleihers und Zinsschacherers, zu hart geht er mit ihm ins Gericht. Und was treibt den jüdischen Schriftsteller Jacobson um, ausgerechnet dieses Stück zu wählen, wo es doch sicherlich einige andere Möglichkeiten gegeben hätte?

Wenn man alle Neben- und sonstigen Stränge beiseite lässt, geht es in Jacobsons Roman um Simon Strulovitch, der verhindern möchte, dass seine Tochter Beatrice einen Nicht-Juden heiratet. Unerwarteten Beistand erhält er von Shylock, dem er auf einem Friedhof begegnet.

Ein Buch über die jüdische Kultur und Weltsicht, zur Abwechslung mal von einem Juden geschrieben. Es geht um die Sicht der Christen auf das Judentum, um jüdischen Humor, um Traditionen und ihren Wert in der heutigen Zeit und um Selbstpositionierung zwischen alter und neuer Welt. Shylock ist dabei der zu Fleisch gewordene Geist des alten Judentums, im ständigen Zwiegespräch mit seiner verstorbenen Frau Leah; Shylock, der den Verlust seiner Tochter betrauert, ihren Verrat, und den kurzen Moment bereut, in dem er einmal ebenbürtig war, einmal Macht über die hatte, die ihn wegen seines Jüdisch Seins verachteten.
Strulovitch dagegen ist reicher und unabhängiger Kunsthändler, der nicht im Jüdisch Sein verhaftet sein möchte, aber zunehmend feststellt, dass es trotzdem so ist. Der darunter gelitten hat, dass sein Vater ihn verstoßen hat wegen der Heirat mit einer Nichtjüdin und trotzdem in Erwägung zieht, dasselbe seiner Tochter anzutun.

Jacobson zeigt uns den „Kaufmann von Venedig“ aus jüdischer Sicht, gibt dem Handeln Shylocks einen Sinn, gibt der Schablone einen Charakter. Und er beweist anhand von Strulovitch, wie sehr diese Schablonen auch heute noch greifen, wie die eigene Herkunft die Sicht der Anderen beeinflusst.

Für mich ist dieser Band der Hogarth Shakespeare Reihe der bisher anspruchvollste, aber auch der anstrengendste. Ein Band, in den man sich einlesen muss, dessen Inhalt dem Leser nicht einfach zufliegt. Ein Roman, der nachhallt und die eigenen Ansichten überdenken lässt, so man sich ihm denn öffnet. Das Buch eines offensichtlich sehr klugen und weltoffenen Menschen, der sich seiner Wurzeln sehr bewusst zu sein scheint und sich daran auch abarbeitet. Und eines Menschen, der versteht, dass Heimat da ist, wo man dieselbe Sorte Humor teilt…

Ich danke dem Knaus Verlag sehr herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Rezensionen zu diesem Buch findet ihr hier:

BritLitScout: https://britlitscout.wordpress.com/2017/10/01/shakespeares-shylock/
LiteraturReich: https://literaturreich.wordpress.com/2017/01/07/howard-jacobson-shylock/

Winter der Seele

Der weite Raum der Zeit von Jeanette Winterson

Der weite Raum der Zeit

Jeanette Winterson

Übersetzung Sabine Schwenk

erschienen 2016 im Knaus Verlag

ISBN 978-3-8135-0673-0

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„Der weite Raum der Zeit“ ist ein weiterer Band der Hogarth Shakespeare-Reihe, in der bekannte Autoren Werke von Shakespeare auf ihre ganz besondere Art nacherzählen. In diesem Falle hat sich Jeanette Winterson dem „Wintermärchen“ gewidmet.
Die 1959 in Manchester geborene Winterson bekam schon für ihr Erstlingswerk „Orangen sind nicht die einzige Frucht“ den angesehenen Whitbread-Prize. Inwischen ist sie eine weithin bekannte Feministin und Autorin, die diverse Bestseller veröffentlicht hat.

Leo, MiMi und Xeno sind bereits sehr lange befreundet. Doch urplötzlich vermutet Leo, seine hochschwangere Frau MiMi habe eine Affaire mit seinem Jugendfreund Xeno. In rasender Eifersucht versucht er Xeno zu ermorden, lässt das neugeborene Mädchen Perdita wegschaffen und verliert bei dem Versuch, das Land zu verlassen, seinen älteren Sohn Milo am Flughafen. Nachdem auch MiMi gegangen ist, bleibt Leo allein zurück.
Jahre später. Aus der kleinen Perdita ist eine junge Frau geworden, die sich durch Zufall in den Sohn Xenos verliebt. Und nach und nach lösen sie gemeinsam die Rätsel ihrer Vergangenheit.

Wintersons Interpretation bewegt sich sehr nah am Original. Im Grunde ist der Roman eine Übertragung der Geschehnisse in die heutige Zeit. Erstaunlich ist, welche Wucht diese uralte Erzählung entwickelt, wenn man das Märchenhafte vorsichtig abstreift und Sprache und Setting dabei anpasst und wie glaubhaft diese doch eigentlich völlig unglaubhafte Geschichte dadurch wird. Winterson gibt ihren Charakteren einen Unterbau, eine Herkunft, die ihre Handlungsweise erklärt und sie nutzt die Gegebenheiten, die unsere Welt heute bietet. Es ist einfach, in einer Großstadt wie Paris spurlos zu verschwinden, ein Mädchen kann im ländlichen Amerika unbemerkt vom in London weilenden Vater aufwachsen und trotzdem ist alles nur wenige Flugstunden voneinander entfernt.
Einzig der Strang um das Computerspiel mit den verlorenen Engeln ist für mich zu übertrieben, will sagen esoterisch dargestellt. Und eigentlich hätte das Buch ihn gar nicht gebraucht, denke ich, denn die Wirkung ist auch ohne herumflatternde Federn enorm.

Das Schöne an den Büchern der Hogarth-Reihe ist, dass jeder Autor einen anderen Weg wählt, Zugang zu den Werken Shakespeares zu finden. Dass jedes Buch völlig anders ist in Stil, Umsetzung und Herangehensweise. Das zeigt, wie vielseitig dieses Werk ist, aber auch, wie viele Interpretationsmöglichkeiten es gibt. „Der weite Raum der Zeit“ ist für mich eine sehr gelungene Mischung aus einem Teil Shakespeare und einem Teil Winterson. Jeanette Winterson verschwindet nicht hinter dem Meister, sie bringt ihren eigenen Stil und ihre eigenen Schwerpunkte in die Geschichte und schafft damit, nicht ganz mühelos, aber trotzdem sehr wirkungsvoll, den Spagat zwischen Alt und Neu, zwischen Gestern und Heute.

Ich danke dem Knaus Verlag sehr herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Prosperos Rache

Hexensaat von Margaret Atwood

Hexensaat

Margaret Atwood

erschienen 2017 im Knaus Verlag innerhalb der Hogarth Shakespeare-Reihe

ISBN 978-3-8135-0675-4

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Innerhalb der Hogarth Shakespeare-Reihe erscheinen Neubearbeitungen von Shakespeares Werken und zwar von international bekannten Autoren. So hat z.B. Anne Tyler „Der Widerspenstigen Zähmung“ ein neues Kleid verpasst oder Edward St Aubyn sich mit „König Lear“ auseinandergesetzt. Margaret Atwood, die Grande Dame der kanadischen Literatur, hat „Der Sturm“ gewählt.

„Der Sturm“ gilt als Shakespeares letztes Werk, von dem die Sage geht, der Zauberer Prospero sei er selbst, der am Ende seines Lebens den Zauberstab zerbricht und die Bücher vernichtet. Das ist begrenzt glaubwürdig, wenn man die vielen noch offenen Fragen in der Shakespeare-Forschung bedenkt, zu denen unter anderem die Frage zählt, wer eigentlich der Autor war, den wir Shakespeare nennen… Margaret Atwood hat es sich also definitiv nicht leicht gemacht mit der Wahl dieses Stückes. Für eine Komödie ist es zu tragisch, für eine Tragödie gibt es zu wenig Tote und das Ende ist zu freundlich, was ist es also?

Prospero, ehemals Herzog von Mailand, wird von seinem eigenen Bruder gestürzt und in einem lecken Boot im Meer ausgesetzt. Er erreicht in letzter Not eine Insel, auf der er zusammen mit seiner Tochter Miranda die kommenden Jahre verbringen wird. Und nun wird es kompliziert: es gibt dort Luftgeister, Göttinnen, Hexen, Trolle und den im Umgang etwas schwierigen Caliban. Der Zauberer Prospero schwingt sich zum Herrscher der Insel auf und schlußendlich gelingt es ihm sogar, Rache zu nehmen und seine Tochter geschickt zu verheiraten. Dafür braucht es viele Worte und Verwicklungen und so einiges an Personal.

Mrs Atwood verlegt die Geschichte auf eine moderne Insel, einen Ort, der mehr oder weniger abgeschlossen ist von der Aussenwelt, ein Männergefängnis. Dort probt der gealterte, ehemals berühmte Regisseur und Schauspieler Felix Phillips mit den Insassen für eine Aufführung von „Der Sturm“. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Leiter eines Theaterfestivals wurde er von seinem Freund und Mitarbeiter Tony betrogen und aus dem Amt entfernt. Er hat Rache geschworen und jetzt endlich scheint die Gelegenheit da zu sein…

Was für ein Kunstgriff! Die ursprüngliche Geschichte wird also quasi umrahmt von der Neubearbeitung. Und der Leser darf rätseln, wer nun in der Jetztzeit welchen Charakter des Stückes darstellt. Zeitgleich bekommen wir aber auch noch eine Stückanalyse frei Haus, da Felix mit den Strafgefangenen, und somit ja auch mit dem Leser, das Drama in seine Bestandteile zerlegt, um es für den ungebildeten Laien verständlich zu machen. Denn in einem Gefängnis sitzen ja nun meistens alles andere als gebildete Theaterkenner.

Natürlich muss man das Buch als das lesen, was es ist: eine Bearbeitung mit einem in groben Zügen vorgegebenen Inhalt. Es ist nicht zu vergleichen mit anderen Werken der Autorin, die besser durchkomponiert sind und prägnanter formuliert. Man sollte es als das sehen, was auch Margaret Atwood offensichtlich darin gesehen hat: einen riesengroßen Spass und eine Spielwiese für kreative Ideen. Sie hatte sicherlich nicht die Absicht, mit diesem Buch nobelpreiswürdige Lektüre abzuliefern. Sie hat sich ausprobiert, hat Raps im Shakespeare-Stil geschrieben, hat an den passenden Stellen Glitzerkonfetti verstreut und nicht jede Handlung auf ihre Wahrscheinlichkeit überprüft. Mir hat sie mit der Idee, dass während der Proben nur Schimpfwörter aus dem shakespeare’schen Original benutzt werden dürfen, viel Freude gemacht. Ich war im Übrigen überrascht, wie viele das Stück hergibt, aber das nur am Rande.

Ich finde, Margaret Atwood hat ihre Aufgabe sehr selbstbewusst erledigt, aber auch sehr achtungsvoll vor dem Werk des Mannes, den man Shakespeare nennt. Für einen Schriftsteller, egal wie berühmt, ist es nicht leicht, sich mit dieser Ikone zu messen. Eine Neubearbeitung muss, verglichen mit dem Original, mit großer Sicherheit abfallen. Sie hat sich also gar nicht erst auf einen Vergleich eingelassen, sondern eher eine Hommage geschrieben oder auch eine kleine Werkanalyse verpackt in einen Roman. Wer das vor Augen hat, kann mit diesem Buch zum einen viel Spass haben und zum anderen auch einiges über den Sturm lernen. Und ganz unabhängig davon, ob man diesen Roman nun als großen Wurf betrachtet oder nicht, kann Margaret Atwood hervorragend schreiben. Ubd damit, ich sage es ganz unverblümt, wird die Kritik, das Werk wäre zu oberflächlich und nicht aussagekräftig genug, zu Jammern auf hohem Niveau.

Daher meine Empfehlung: lesen, lernen, Spass haben.

 

Ich danke dem Knaus Verlag sehr herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.