Die Chronik der Familie Hirsch

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Die Gewitterschwimmerin
Franziska Hauser
erschienen am 09.Dezember 2019 im btb Verlag
ISBN 978-3-442-71915-0

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Franziska Hauser hat in diesem Buch Teile ihrer eigenen Familiengeschichte verarbeitet. Und das wohl ziemlich unverblümt. „Unverblümt“ ist überhaupt das Wort, das für mich diesen Roman charakterisiert. Es hat sicherlich eine gehörige Portion Mut verlangt, dieses Buch so zu veröffentlichen, es erzählt deutsche Geschichte aus ostdeutscher Warte, es deckt familieninternen Missbrauch auf, es stand sicherlich zu Recht auf der Longlist für den deutschen Buchpreis 2018 – und doch konnte es mich nicht wirklich überzeugen. Zu direkt, fast grob stellenweise, ist die Sprache, zu fern sind mir die Menschen in ihrem Handeln und Denken. Und der Kunstgriff, die zwei Erzählstränge, die Geschichte der Familie und die Geschichte der Protagonistin, über Kreuz laufen zu lassen (ersterer führt von der Vergangenheit in die Gegenwart, letzterer von der Gegenwart in die Vergangenheit), führt bei mir eher zu zeitlicher Verwirrung denn zu Bewunderung.
Tamara Hirsch ist alleinerziehende Mutter zweier Mädchen, Puppenspielerin und Tochter eines berühmten DDR-Schriftstellers. Sie kämpft jeden Tag darum, den Kopf über Wasser zu halten, die Kälte der Mutter, Missbrauch durch den Vater und diverse Bekannte/Verwandte und der Suizid der Schwester haben unheilbare Wunden hinterlassen. Wunden, die es ihr nicht erlauben, die Mutter zu sein, die sie gerne wäre.
Friedrich Hirsch ist ein aus dem Badischen stammender Jude, dem es gelingt, während des Naziregimes nach England zu fliehen. Sein ältester Sohn Alfred wird Résistance-Kämpfer, glühender Kommunist und später Verfasser linientreuer DDR-Literatur.
Dies sind die zwei gegeneinander laufenden Stränge. Natürlich gibt es noch weit mehr Personal, die treue Haushälterin etwa oder die erste Liebe Alfreds, ebenfalls eine jüdische Résistance-Kämpferin.
Kapitel für Kapitel enthüllt sich die Familienchronik, stehen große Momente der Geschichte neben Nacktbaden am Teich der familieneigenen Datscha.
Was sich mir allerdings nicht erschließt, ist der Grund für dieses Buch. Sollte ein familieninterner Skandal öffentlich gemacht werden? Ist es ein Beitrag zur #metoo-Debatte? Eine Familienchronik? Mir fehlt die Entwicklung der Charaktere, mir fehlen die Hintergründe für ihr Handeln. Vielleicht, nein, sehr wahrscheinlich, fehlte der Autorin der Abstand zum Thema. Vieles gerät sehr schablonenhaft, die meisten Handlungserklärungen sind eher dürftig. Warum wird aus dem eigentlich lebensfrohen Alfred ein Kinderschänder? Hat die DDR-eigene Nacktkultur das begünstigt? Was treibt die gefühlskalte Mutter wirklich an? Ist es tatsächlich möglich, dass die Haushälterin und engste Vertraute der Kinder nichts mitbekommen hat? Kann man das alles nur mit Kriegsschäden erklären? Womit erklärt man es sonst? Was macht diese Familie mit Ausnahme des Gründers Friedrich Hirsch so hoffnungslos kaputt? Und was treibt eine Autorin an, ihre Familie so kommentarlos bloßzustellen? Was will sie aufzeigen, in Gang bringen, verändern? Oder ist der Roman eher als Befreiungsschlag zu verstehen, ein Sichtbar Machen all der unterschwelligen Familienströmungen?
Für mich bleiben zum einen zu viele Fragen offen und zum anderen hat der Roman mich nicht berührt, obwohl genug Stoff da wäre, der einen auf die Knie zwingen könnte vor mitgefühltem Schmerz.
Dieser Roman erlaubt keinen Mittelweg, denke ich. Entweder man findet ihn rundherum großartig oder er lässt einen mehr oder minder komplett kalt.

Ich danke dem btb Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Besprechungen:

Die Art der Ida Gratias https://dieartderidagratias.com/2019/01/31/15668/

Hommage an Erich Kästner

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Friedrich der grosse Detektiv
Philip Kerr
Aus dem Englischen von Christiane Steen
erschienen am 28.01.2020 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-00070-6

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Eigentlich bespreche ich hier ja keine Kinderbücher. Diesmal mache ich eine Ausnahme: erstens, weil das Thema so unglaublich wichtig ist und zweitens, weil es um Erich Kästner geht.
Ein amüsanter Zufall: erst bei der Recherche zu dieser Rezension ist mir aufgefallen, dass gestern die Taschenbuchversion erschienen ist. Ich nehme es als Zeichen für den richtigen Zeitpunkt.
1933. Friedrich und seine Freunde Albert und Viktoria, genannt der Doktor, spielen gerne Detektive. Friedrichs Lieblingsbuch ist „Emil und die Detektive“ und zu seiner großen Freude wohnt der Autor Erich Kästner gleich in der Nähe.
Während sein älterer Bruder Rolf begeisterter Nazianhänger wird und sogar Friedrichs signiertes Lieblingsbuch zur Bücherverbrennung einzieht, lösen Friedrich und seine Bande kleinere Fälle um verlorene Gegenstände. Als dann tatsächlich die Polizei sie um Hilfe bittet, sind sie ganz stolz, bis sie feststellen, dass sie Erich Kästner ausspionieren sollen. Sie berichten stattdessen Kästner davon und müssen bald feststellen, dass unbeschwerte Kinderspiele in ihren Zeiten nicht mehr möglich sind.
Philip Kerr hat ein Kinderbuch geschrieben, dass eigentlich gar keines ist. Zumindest dann nicht, wenn man erwartet, dass in Kinderbüchern trotz aller Probleme, aller Schwierigkeiten und allem Ernst das Ende irgendwie gut ist. Oder hoffnungsvoll. Friedrich lebt aber nicht in hoffnungsvollen Zeiten und Kerr scheint zu meinen, dass man das Kindern auch so vermitteln kann und darf.
Ich habe das Buch gelesen und es gleich weitergereicht an meinen Sohn. Der hatte das Cover entdeckt und kannte Kästners Kinderbücher schon. (Was übrigens ungemein hilft, denke ich. Andererseits, wenn man durch dieses Buch sich veranlasst fühlt, sie zu lesen, ist das natürlich auch gut.) Er wollte das Buch nun unbedingt lesen, während ich ehrlicherweise so meine Zweifel hatte. Ich habe es ihm überlassen mit den Worten, er könne jederzeit mit mir über den Inhalt sprechen. Zwei Tage lang habe ich nichts mehr davon gehört. Dann kam ein heulendes Häufchen Elend aus dem Kinderzimmer.
-Mama, warum sind Menschen so? Und: warum hast Du mir das Buch gegeben, Du wusstest doch, was passiert?
-Weil die beschriebenen Dinge eben wirklich passiert sind, weil es den verfolgten Dichter Kästner eben wirklich gab, weil die Bücherverbrennung stattgefunden hat und die Rekrutierung von Kindern für Spitzelaufgaben, weil plötzlich jüdische Nachbarn und Freunde verschwunden oder geflohen waren, weil der Graben sich durch Familien zog. Und weil man das nie vergessen darf, es immer wieder erzählen muss und in Erinnerung rufen.
-Damit es nicht wieder passiert, oder, Mama?
-Ja, damit so etwas nie wieder passiert.
-Dann war es gut, dass ich es gelesen habe. Auch, wenn mir der Schluß nicht gefallen hat.

Ich finde dieses Kinderbuch wichtig. Ich denke aber auch, Eltern sollten es gelesen haben, bevor sie es ihren Kindern geben. Nicht jedes Kind wird damit zurecht kommen. Empfohlen ist es ab 11 Jahren. Ich würde es vom Charakter des Kindes abhängig machen, denn, und das ist jetzt definitiv ein Spoiler: Friedrich wird den Krieg nicht überleben. Und das hat selbst mich als Erwachsener heftig getroffen. Weil ich nicht davon ausgegangen bin, dass ein Autor soweit geht, seinen Hauptcharakter sterben zu lassen. Nicht in einem Kinderbuch. Nicht in einem Buch, das zunächst versucht, den Charme von „Emil und die Detektive“ einzufangen, das als klassisches Abenteuerbuch beginnt.

Aber nur so ist es realitätsnah. Und kommt hoffentlich in den Köpfen an: rechtes Gedankengut ist nicht tolerierbar und nicht zu entschuldigen. Es ist menschenverachtend und gefährlich und darf gesellschaftlich nie wieder akzeptiert werden.

21. Juli 1969

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Wo wir waren
Norbert Zähringer
erschienen am 12. März 2019 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-07669-6

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Am 21. Juli 1969 betritt der erste Mensch den Mond. Und von dieser Nacht ausgehend, erzählt Zähringer die Geschichte seiner Protagonisten. Er springt dabei in den Zeitebenen, verschränkt die Leben seiner Charaktere miteinander und schafft so ganz unaufgeregt das Panorama eines ganzen Jahrhunderts.
Man muss aufmerksam lesen, denn nebenbei Erwähntes wird wieder aufgegriffen, Personen oder Ereignisse tauchen in anderen Zusammenhängen auf, müssen neu bewertet werden. Das geschieht ohne überzogene Dramatik, die Erzählweise ist ruhig. Das hilft dem Leser den Überblick zu behalten zum einen, zum anderen aber auch das zu ertragen, was da erzählt wird. In einem Jahrhundert mit gleich zwei Kriegen gibt es eben nicht nur schöne Momente. Von Bombennächten ist die Rede, aber auch von Kindesmissbrauch in Waisenheimen, von Selbstmordversuchen. Der Bogen reicht von den Gräben des Ersten Weltkrieges bis zum IT-Boom der Achtziger.
Beeindruckend ist dieser Roman, sprachlich und inhaltlich. Vor allem kommt er ohne die derzeit so beliebten fiktiven Welten, ohne plakativen Fingerzeig auf Mißstände aus. Den Finger auf die Wunde legt Zähringer trotzdem. Er läßt dem Leser allerdings den Spielraum selbst zu denken. Das ist eine selten gewordene Kunst und daher ist es umso erfreulicher, wenn sie so souverän beherrscht wird.
„Wo wir waren“ steht zwar auf der Longlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis, ist aber das Buch, von dem man, zumindest war das mein Eindruck, am wenigsten gehört hat. Das empfinde ich als überaus bedauerlich, wäre es doch in meinen Augen ein verdienter Shortlist-Kandidat gewesen. Denn wo findet man noch Autoren, die lange Bögen schlagen können ohne den Erzählfaden zu verlieren, die Weitwinkel statt Makroaufnahme wählen, große Bühne statt Kammerspiel?
2001 erschien Norbert Zähringers Debüt. Seitdem hat er nur vier weitere Romane herausgebracht. Auch das ist selten geworden: ein Autor, der seinen Texten Zeit gibt. Einen Eindruck davon gibt die Rechercheliste am Ende des Romans.
Wer also wirklich großartige Literatur lesen möchte, der sollte „Wo wir waren“ eine Chance geben…

Ich danke dem Rowohlt Verlag sehr herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Besprechungen:

Lesen macht glücklich https://lesenmachtgluecklich.wordpress.com/2019/09/14/rezension-buchpreisbloggen-norbert-zaehringer-wo-wir-waren/