Ein Leben im Russland Stalins

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Rote Kreuze
Sasha Filipenko
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
erschienen am 26.02.2020 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07124-5

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Dieser Roman ist ganz sicher wichtig. Es ist gut, dass er geschrieben und veröffentlicht wurde und er findet hoffentlich viele Leser. Sasha Filipenko, Jahrgang 1984, arbeitet darin die Stalin-Ära auf, vom Umgang mit den eigenen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, über die Säuberungswellen danach bis zu den Nachwirkungen auf die heutige Generation. Er schreibt anhand eines Fallbeispiels über auseinander gerissene Familien, Arbeitslager, Kinderheime, über Terror, Angst und verlorene Leben.
Tatjana Alexejewna ist eine über neunzigjährige Dame, die noch einmal ihr Leben erzählen möchte, bevor die Alzheimer-Erkrankung ihr die Erinnerungen nimmt. Und so nötigt sie ihrem jungen neuen Nachbarn die Gespräche geradezu auf. Dessen anfängliche Gereiztheit verwandelt sich zu Interesse und Zuneigung, zumal auch sein Leben alles andere als freundlich verlaufen ist. Und so finden die beiden Zuspruch und Halt im jeweils anderen.
„Rote Kreuze“ hat mich sehr zwiegespalten hinterlassen. Einerseits möchte ich unbedingt, dass dieser Roman gelesen wird, weil zu dieser Thematik noch viel zu wenig veröffentlicht wurde, und er neben aller menschlichen Grausamkeit auch über historisch interessante Aspekte berichtet, die mir so gar nicht bewusst waren, u.a. den Umgang der russischen Behörden mit den Vermisstenlisten des Roten Kreuzes.
Andererseits stellt sich mir nun die Frage: muss ein historisch bedeutsamer Roman auch literarisch gut sein? Denn das ist „Rote Kreuze“ für mich ganz sicher nicht. Filipenko versucht auf schmalem Raum, nämlich gerade mal 278 Seiten, ein weites Feld zu bearbeiten. Neunzig Jahre sind eine lange Zeit und Tatjana Alexejewna hat mehr erlebt, als ein Mensch eigentlich ertragen können müssen sollte. Dazu kommt noch der Gegenwartsstrang um den jungen Ich-Erzähler, der zusätzlichen Platz auf den wenigen Seiten beansprucht. Dadurch wirken die Dialoge oft hölzern, sind reine Stichwortgeber für den nächsten Ausschnitt aus Tatjanas Geschichte. Tatjana selbst bleibt schattenhaft hinter dem ihr zugeschriebenen Leben. Ein Leben, an dem unzweifelhaft nichts übertrieben ist, das Millionen russischer Frauen in Abwandlungen so geführt haben müssen. Die pure Unvorstellbarkeit dieses Lebens, die grausame Kälte, mit der hier Menschen gebrochen werden, treibt einem Tränen der Hilflosigkeit auf die Wangen. Die geschichtlichen Abläufe sind es, die berühren, nicht die Romanfiguren selbst. Tatjana Alexejewna ist, wie oben so hart geschrieben, ein Fallbeispiel des Autors, kein lebendiger literarischer Charakter.
Aber trotzdem, und dabei bleibe ich, ist es gut und richtig, dass dieser Roman geschrieben wurde, dass endlich öffentlich gemacht wird, was so lange verschwiegen wurde.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

 

Gereon Rath

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Der nasse Fisch
Volker Kutscher
erschienen am 03.01.2020 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-31594-4

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Gefühlt war ich der einzige Mensch in Deutschland, der bisher weder Bücher der Gereon Rath-Reihe gelesen, noch die daraus entstandene Serie Babylon Berlin gesehen hatte. Das hat sich nun tatsächlich geändert. Ein bisschen wundere ich mich im Nachhinein schon, dass ausgerechnet ich diese Mischung aus klassischem hardboiled Krimi und Zwanziger Jahre-Flair so lange nicht wahrgenommen habe. Die sozialen Medien waren voll davon, mein Mann hat von der Serie geschwärmt und … Frau Lehmann war scheinbar nicht anwesend.
Bis ich in der Vorschau des Piper Verlags quasi darüber gestolpert bin. Schallend ausgelacht wurde ich dafür: oh, ein Zwanziger Jahre-Krimi und oh, die Vorlage für Babylon Berlin, davon habe ich Dir schon vor Monaten erzählt, war der Kommentar des besserwissend lächelnden Gatten.
Für eventuell doch noch vorhandene Unwissende, die sich gerade verzweifelt fragen, wovon ich hier eigentlich schreibe, folgt nun eine kleine Zusammenfassung. Alle anderen dürfen diesen Abschnitt getrost überspringen.
Der junge Polizeikommissar Gereon Rath wird wegen eines Vergehens aus dem Kölner Morddezernat nach Berlin zur Sittenpolizei versetzt. Es ist das Jahr 1929, überall machen in Berlin verbotene Clubs auf, die Pornoindustrie boomt, es fließen Ströme von Alkohol und Drogen, der berühmte Tanz auf dem Vulkan ist in vollem Gange. Durch einen Zufall bekommt Rath Informationen zu einer laufenden Mordermittlung. Um sich zu profilieren und gegebenenfalls wieder in eine Mordkommission versetzt zu werden, ermittelt er auf eigene Faust weiter. Dabei verliebt er sich in seine Kollegin Charlotte Richter und stochert in diversen Schlangengruben herum.
Warum ist da eigentlich noch nicht eher einer auf die Idee gekommen, dass das Berlin der Weimarer Republik genau der Ort sein könnte, an dem ein deutscher Philip Marlowe sich heimisch fühlen könnte? Und ist das tatsächlich die erste deutsche Krimireihe, die an die Traditionen Chandler und Hammett anschließt?
Das Setting könnte jedenfalls nicht besser gewählt sein. Der Erste Weltkrieg ist verloren, die Weltwirtschaftskrise droht. Rechte und linke Gruppierungen liefern sich bewaffnete Straßenschlachten, der Nationalsozialismus hat sein hässliches Haupt schon erhoben. Berlin brennt. Die Menschen feiern, um zu vergessen. Kinos, Varietétheater, Nachtclubs schießen aus dem Boden, kontrolliert und geleitet von Verbrecherkartellen. Die Polizei hat es nicht leicht, für Recht und Ordnung zu sorgen, schon allein deshalb nicht, weil hohe Vorgesetzte sich eher von der Politik leiten lassen als von der Gesetzeslage. Es wird geküngelt, vertuscht und gemauschelt, Akten verschwinden, Menschen auch. Sicher ist im Leben nur der Tod.
Gereon Rath muss die Gesetze der Hauptstadt erst lernen. Und stellt dabei fest, dass es gar nicht so leicht ist, in diesem Sumpf ehrenhaft zu handeln. Vor allem dann nicht, wenn einen der eigene Ehrgeiz antreibt, der Wunsch sich zu beweisen. Rath ist kein eindimensionaler Held. Er hat Fehler, Schwächen, er ist unsicher, verrennt sich, raucht wie ein Schlot, säuft ganz gern und ist auch bei Kokain nicht abgeneigt. Und er hat einen Übervater im Nacken, einen mit Verbindungen zum Polizeipräsidenten, der ihn behandelt wie eine Schachfigur. Kurz, Rath ist ein Getriebener. Und passt deshalb so hervorragend in diese atemlose Stadt.
Inzwischen kann ich verstehen, warum die Reihe so beliebt ist. „Der nasse Fisch“ ist im Grunde nahezu perfekt: gut recherchiert, ausgefeilte und ausbaufähige Charaktere in einer hochexplosiven Zeit und ein spannender Fall, geschichtlich plausibel umgesetzt. Mehr kann man eigentlich von einem Krimi kaum verlangen. Gereon Rath hat einen weiteren Fan.

Ich danke dem Piper Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Zerrissen

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Olga
Bernhard Schlink
erschienen am 01.Januar 2018 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07015-6

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Olga. Olga wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, der Vater ist Schauermann, die Mutter Wäscherin. Die Eltern sterben früh am Fleckfieber und Olga zieht zur ungeliebten Großmutter aufs Land, nach Pommern. Das Mädchen ist intelligent, lernt schnell, findet aber nur schwer Anschluss. Bis sie Herbert kennenlernt, den Sohn des Gutsherren. Die Beiden freunden sich an, gegen alle Widerstände, und werden später auch ein Liebespaar. Olga wird Lehrerin, während Herbert sich in bester Junkermanier zum Kolonialherren entwickelt, durch die Welt reist und Ruhm für Deutschland zu erlangen sucht. Irgendwo in der Arktis verlieren sich dann seine Spuren, Olga bleibt allein zurück.
Soweit der erste Teil des Romans.
Der zweite Teil berichtet von der älteren Olga, bis zu ihrem Tod. Erzählt wird er von einem Icherzähler, einem Jungen, bei dessen Familie sie zunächst als Näherin tätig war und dem sie Großmutter und Freundin zugleich wird. Dieser Junge findet dann auch Briefe, die Olga an Herbert ein Leben lang geschrieben hat und die wir im dritten Teil zu lesen bekommen.
Um Deutschlands Großmachtsträume geht es, um Kolonialismus, um zwei Weltkriege, um ein Leben, dessen Glücksfaden scheinbar immer wieder zerreißt, das immer wieder an der Neigung der Deutschen, zu groß zu denken, scheitert. Zumindest denke ich mir, dass das die Quintessenz des Romans sein soll. Denn seltsam zerrissen ist auch dieses Buch in seinen drei nicht wirklich zueinander passenden Teilen. Wobei alle Teile für sich schlinkgemäß hervorragend geschrieben sind. Trotzdem knirscht es in den Fugen. Der erste Teil mit seiner soghaften Sprache wird ausgebremst durch den zweiten Teil, zu abrupt gerät der Wechsel, der dritte Teil dient der Spurensuche und führt die Fäden zusammen. Der Lesefluss ist dahin, auch wenn jeder Teil für sich neue Erkenntnisse, Perspektivenwechsel und Eindrücke bringt. Vielleicht ist das gewollt, vielleicht soll der formale Rahmen diesem nicht geradlinigen Leben mit seinen vielen Brüchen entsprechen? Dann ist das Konzept aufgegangen. Wie Olga muss der Leser sich immer wieder neu zurechtfinden und wird unterbrochen, wenn er sich bequem eingerichtet hat. Olgas Leben breitet sich puzzleförmig vor uns aus, erst wenn alle drei Teile gelesen sind, ist alles sortiert und am rechten Platz. Geschichtlich gesehen, ist das sehr spannend, zumal Olgas Leben einen weiten Zeitraum umspannt, lesetechnisch ist es etwas bemüht und funktioniert nur deshalb, weil Schlink eben Schlink ist und seine geschliffenen Sätze für sich allein sprechen können.

Weitere Besprechungen:

jo. liest https://joliest.com/2019/02/11/rezension-bernhard-schlink-olga/
the lost art of keeping secrets  https://thelostartofkeepingsecrets.wordpress.com/2018/10/12/olga/

Hamutal

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Die Fremde
Stefan Hertmans
Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
erschienen am 11.Dezember 2019 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-24506-6

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Stefan Hertmans Roman „Krieg und Terpentin“ war eine der großen Entdeckungen des Jahres 2018 für mich. Selten hat mich ein Buch so in Bann gezogen, wie dieses über das Leben von Hertmans‘ Großvater.
Daher war es sehr naheliegend, auch Hertmans‘ neues Buch zu lesen, das so ganz anders ist und irgendwie doch ähnlich. Auch hier begibt sich Hertmans auf Spurensuche, folgt den Wegen seiner Protagonistin bis nach Kairo, versucht einen Lebensweg zu entschlüsseln. Doch diesmal liegt dieses Leben weit zurück, um 1100 im tiefsten Mittelalter, zur Zeit der Kreuzzüge. Hertmans stößt auf Texte über eine junge Normannin adliger Herkunft, die zum Judentum konvertiert. Und recherchiert, bis er dieses Leben in Grundzügen vor sich sieht.
Vigdis verliebt sich bei Spaziergängen mit ihrer Gouvernante in ihrer Geburtsstadt Rouen in den jungen jüdischen Scholaren David, Sohn des Oberrabiners von Narbonne. Man versucht, diese Liebe zu unterbinden und schickt Vigdis in ein Kloster, aus dem ihr mit Hilfe Davids die Flucht gelingt.
Wenn man bedenkt, in welcher Zeit wir uns befinden, sind diese wenigen Sätze ungeheuerlich. Eine junge Adlige, gebildet und gut ausgebildet, um eine Ehe nach Wunsch des Vaters einzugehen, eine Ware also, die teuerstmöglich verkauft werden soll, um Verbindungen und Reichtum zu bringen, flieht mit einem jüdischen Mann, den sie gar nicht kennen sollte geschweige denn lieben, aus dem Elternhaus. Nicht mit irgendeinem Mann, was schon schlimm genug wäre, nein, sondern mit einem jüdischen, einem Christusmörder. Wir erinnern uns, es wird nicht mehr lange dauern, bis Papst Urban II zu den Kreuzzügen aufrufen wird, um Jerusalem von allem unchristlichen zu befreien.
Die beiden Liebenden ziehen auf geheimen Wegen nach Narbonne, zu Davids Familie. Dort konvertiert die inzwischen schwangere Vigdis und wird sich nun Hamutal nennen.
Welche Eigenständigkeit und Kraft es zu damaliger Zeit von einer jungen Frau verlangt, diesen Weg zu gehen, ist heute kaum noch vorstellbar. Und so wird Hamutal auch kein friedliches Leben verbringen. Beständig auf der Flucht vor den Häschern des Vaters und als Jüdin für viele Freiwild, wird sie nur wenige halbwegs glückliche und ruhige Jahre haben. Sie wird für ihre Kinder bis nach Kairo reisen, wo ihre Lebensgeschichte in der dortigen Synagoge per Zufall erhalten bleibt und lange, lange Zeit später in Hertmans Hände gelangt.
Diese Lebensgeschichte ist genauso faszinierend wie grausam, zeigt sie doch die Kraft der Liebe gegen religiösen Extremismus. Wie friedlich hätte Hamutals Leben verlaufen können, gäbe es keine Religionen mit dem Anspruch auf alleiniges Recht.
Hertmans gelingt es, Hamutal eine Stimme zu geben, einen Platz in der Erinnerung. Es gelingt ihm, ihr besonderes Schicksal behutsam hervorzuheben, vom Staub zu befreien.
Und obwohl Hamutals Leben im dunklen Mittelalter gelebt wurde, weit weg von unserer heutigen Zeit, wie viele Frauen sind wohl heute genauso wie sie auf der Flucht? Um ihre Liebe zu leben, um Kinder in Sicherheit zu bringen, um ein lebenswertes Leben führen zu können? Die Parallelen sind erschreckend. Der religiöse Extremismus ist noch genauso stark wie auch der Judenhass, in weiten Teilen der Welt dürfen Frauen immer noch nicht frei über ihr Leben verfügen und Kreuzzüge heißen inzwischen nur anders. Wie weit also sind wir trotz aller Technisierung wirklich entfernt vom „düsteren“ Mittelalter?

Ich danke dem Diogenes Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Ein Jahr ist vergangen

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1794
Niklas Natt och Dag
Aus dem Schwedischen von Leena Flegler
erschienen am 03.01.2020 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-06194-0

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Die Fortsetzung von Niklas Natt och Dags letztjährigem Erfolgsroman ist da. Damit hatte ich nicht zwingend gerechnet. Nachdem Natt och Dag den interessanteren seiner beiden Ermittler im vorherigen Band sterben liess, war mein erster Gedanke, dass daher wohl kein weiterer Band geplant sei. Den Körper ohne den Kopf ermitteln zu lassen, erschien mir begrenzt sinnvoll. Dem Autor ging es wohl ähnlich. Und so hat er für die nun doch erfolgte Fortsetzung eine Lösung ersonnen, die für mich der einzige Haken am ansonsten überaus gelungenen zweiten Teil ist, wenn sie auch die Möglichkeit bietet, nun eine ganze Reihe zu entwickeln. Die Lösung, anders werde ich sie aus Spannungsgründen nicht nennen, erscheint mir wenig plausibel, ein wenig zu sehr aus der Trickkiste des Schriftstellers gezogen. Aber sei’s drum… Denn, es geht weiter!
Jean Michael Cardell, zutiefst getroffenes Überbleibsel eines Duos, ist am Boden angekommen. Um den Schmerz über den Verlust Winges zu ertragen, säuft und prügelt er sich durch die Tage. Bis eine Frau ihn in einem bizarren Mordfall um Hilfe bittet: ihre Tochter wurde in der Hochzeitsnacht bestialisch gefoltert und umgebracht. Angeblicher Täter soll der frisch angetraute Ehemann sein, der nun sein Leben in einem Irrenhaus fristet. Die Frau glaubt dieser offiziellen Version nicht und irgendetwas an ihrer Geschichte bringt Cardells Gerechtigkeitssinn zum Klingen…
Natt och Dags Romane sind definitiv nichts für zartbesaitete Seelen. Sein Stockholm um 1790 hat keine nett für den Leser gefegten Gassen. Der Dreck ist kniehoch, der Gestank unerträglich, die Menschen sind in weiten Teilen verroht und arm jenseits aller heutigen Vorstellungen. Ich bin kein Freund allzu blutiger Darstellungen, aber dieser Autor metzelt sich nicht sinnlos durch seine Bücher. Seine zugegeben sehr drastischen Beschreibungen entsprechen den Verhältnissen. Die Armen- und Irrenhäuser waren eine beständige Drohung für alle Mittellosen, die Zustände grauenerweckend. Und auch das Spinnhaus aus dem ersten Teil hat seine alptraumhafte Existenz nicht aufgegeben. Überhaupt begegnen wir so einigen Charakteren aus dem ersten Teil wieder, etwas, was ich an Reihen durchaus schätze, die Fortentwicklung wichtiger Charaktere. Keine aus der Zeit gefallenen Einzelfälle, sondern ein bleibendes Umfeld, auch das macht eine Romanreihe realistischer.
Fazit: der zweite Teil ist meiner Meinung nach ein kleines bisschen weniger ausgereift als der erste wirklich herausragende Teil. Das sollte aber für den Leser keinen Ausschlag geben, denn auch der zweite Teil besticht durch einen ungewöhnlichen Kriminalfall, tiefe Einblicke in die schwedische Gesellschaft um 1790, sehr realistische Beschreibungen, eine akribische Recherche zu den Gegebenheiten und Spannungsbögen, die ununterbrochenes Lesen zu einem Muss machen. Chapeau!

Ich danke dem Piper Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

 

Joseph von Hammer-Purgstall

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Der Hammer
Dirk Stermann
erschienen am 17.09.2019 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-04701-6

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Was für ein Roman! Ich mag die Formulierung „prall gefühlt mit…“ ja nicht so sehr, aber selten passte sie so gut wie hier: prall gefüllt nun also mit Farben, Gerüchen, Träumen und Illusionen, mit Politik, Sprache, Geschichte, mit Joseph Hammer, mit Bildern aus dem Orient und aus den schmutzigsten Gossen Wiens.
1787. Der dreizehnjährige Joseph wird von seinem Vater aus der österreichischen Provinz nach Wien gebracht, um Zögling an der Orientalischen Akademie zu werden. Dort soll er Sprachen lernen. Höchstes Ziel ist es, nach Abschluß der Ausbildung nach Konstantinopel beordert zu werden. Joseph ist genauso talentiert wie ehrgeizig und so sollte seinen Träumen wenig im Weg stehen…
Dirk Stermann ist mit „Der Hammer“ eine großartige Romanbiographie gelungen, an der der echte Joseph von Hammer-Purgstall wohl seine Freude gehabt hätte. Komplett aus der Sicht seines Protagonisten geschrieben, sehen wir von Hammer ein ums andere Mal an der Natur der Menschen scheitern und dabei quasi im Vorbeigehen Großes vollbringen. Der Hammer ist brilliant, aber eben auch unbequem, wenig diplomatisch und von niederer Herkunft, Adelstitel und -sitz kommen erst spät im Leben. Und so ziehen die guten Posten an ihm vorbei, leidet er lautstark unter der Unfähigkeit seiner Vorgesetzten, verkriecht sich zunehmend hinter seinen Büchern und Übersetzungen.
Stermann erweckt die Wiener Gesellschaft zu neuem Leben, lässt die Puppen tanzen, sogar Napoleon höchstselbst hat einen Auftritt, von Metternich darf Gift verspritzen und der König Bälle suchen wie ein gut abgerichteter Apportierhund.
Romane mit geschichtlichem Hintergrund sind kein einfaches Feld. Viel zu häufig werden dabei Menschen mit heutigem Benehmen und Denken in ein historisches Setting gepresst. Heraus kommen austauschbare und blutleere Erzählungen mit ein bisschen aufgemalter Kulisse. Ganz anders ist da dieser Roman: Sprache, Verhalten, Umgebung, alles passt zusammen. Der Erzähler sieht, was Hammer sieht, riecht, was Hammer riecht, wittert mit ihm Ämtermissbrauch und Vetternwirtschaft und läßt den Leser am egozentrischen Weltbild seines Protagonisten teilhaben. Und trotzdem verschmilzt er nicht kritiklos, man spürt schon recht schnell, wo der Hammer schief hängt. Ein wirklich lesenswerter Roman über ein großes Talent und einen Grantler erster Güte, bei dem man sich die Zeit nehmen sollte, ihn Seite für Seite zu genießen.

Ich danke dem Rowohlt Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Briefe an den Sohn

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Über die Kunst, ein Gentleman zu sein
Earl of Chesterfield
Aus dem Englischen von Gisbert Haefs
erschienen am 30. September 2019 im Manesse Verlag
ISBN 978-3-7175-2484-7

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Das Besondere am Manesse Verlag ist die Liebe zu den weniger bekannten Klassikern. So erscheint dort eben nicht nur der x-te Jane Austen-Band, sondern zum Beispiel das japanische Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon oder auch ausgewählte Briefe des Earl of Chesterfield an seinen Sohn.
Mit seinen Briefen gedachte der Earl seinen Sohn zu einem Gentleman und Staatsmann nach eigenem Vorbilde zu erziehen. Von 1739 bis 1768 schrieb er fast vierhundert dieser Briefe, an den Fünfjährigen ebenso wie an den über Dreißigjährigen. Es geht um Fragen der Moral, des Benehmens, der Bildung, der Religion, der Politik, schlicht um das gesamte Wissen, das einen Mann von Stand zu dieser Zeit auszeichnete.
Der Earl scheiterte grandios. Der Sohn, auf den er nicht gelinden Druck ausübte, war unehelich, während die offizielle Ehe kinderlos blieb. Alle Mühen der Erziehung, die Hauslehrer, die Reisen, die ausgewählten Kontakte blieben nutzlos, der Sohn wurde weder zum Gentleman, noch entwickelte er nennenswerte Manieren. Zu guter Letzt starb er jung noch vor dem Vater und hinterließ als Überraschung eine Ehefrau und Kinder in Frankreich.

„Mein Ziel ist es, Dich für das Leben tauglich zu sehen; solltest Du dies nicht sein, habe ich nicht den Wunsch, dass Du überhaupt lebst. Meine Zuneigung zu Dir ist – und wird es immer nur sein- proportional zu Deinen Verdiensten; dies ist die einzige Zuneigung, die ein rationales Wesen für ein anderes empfinden sollte.“

Unter diesen Umständen zu einem charmanten Mann von Welt heranzuwachsen, dürfte ein schwieriges Unterfangen sein. Warum sollte man diesem gescheiterten Erziehungsprojekt also weiterhin Aufmerksamkeit schenken?
Weil es darin eben hauptsächlich um die Ausbildung eines angenehmen (gentle) Wesens geht. Und das ist in der heutigen Zeit genauso von Vorteil wie damals. Es geht darum, seine Arbeit konzentriert zu erledigen, darum, in Gesellschaft eher zuzuhören als sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, es geht um Höflichkeit, um Anstand, um Strebsamkeit und Disziplin. Man kann die Briefe nicht eins zu eins auf unsere heutigen Lebensumstände übertragen, man kann aber sehr wohl Anregungen aus ihnen ziehen, sogar im Umgang mit den sozialen Medien:

„Aber dies will ich Dir raten: niemals ganze Gruppen gleich welcher Art anzugreifen, denn abgesehen davon, dass sämtliche allgemeinen Regeln ihre Ausnahmen haben, machst Du Dir ohne Not eine große Menge Feinde, indem Du ein Corps insgesamt attackierst.“

Natürlich sind die Briefe im Geiste ihrer Zeit zu lesen, so macht es z.B. wenig Sinn, dem Earl Frauenfeindlichkeit vorzuwerfen, er spiegelt lediglich die Ansichten seiner Zeit. Aber seine Anregungen kann man geschlechterunspezifisch umsetzen: selbständig denken, nicht ungeprüft andererleuts Meinung übernehmen, Menschen nicht unnötig verbal verletzen und über unbedeutende Eigentümlichkeiten hinwegsehen, aber wenn nötig auch für die eigene Meinung einstehen. Ein solches Benehmen würde auch heutige Konversationen häufig vereinfachen. Und es spricht nun wahrlich nichts dagegen, sich als von angenehmem Wesen zu erweisen, oder?

Ich danke dem Manesse Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

AstroLibrium widmet dem Buch ein ganzes Projekt: https://astrolibrium.wordpress.com/projekte/das-gentleman-projekt/

Krieg der Worte

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Der unsichtbare Roman
Christoph Poschenrieder
erschienen am 25. September 2019 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07077-4

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Ein neuer Poschenrieder! So hallte es fröhlich juchzend durchs Hause Lehmann. Mit einem Thema, das sogar den geschichtsinteressierten, aber wenig lesebegeisterten Herrn Lehmann zu einem Klappentextblick animierte.
Es geht um den Schriftsteller Gustav Meyrink, heute nahezu in Vergessenheit geraten, der mit seinem 1915 erschienenen Roman „Der Golem“ und im Simplicissimus veröffentlichten Arbeiten damals einen hohen Bekanntheitsgrad besitzt. Damals, das ist im Roman 1918. Meyrink erhält eine Anfrage aus dem Auswärtigen Amt. Er soll einen Roman schreiben, der die Schuld am Ersten Weltkrieg den Freimaurern und ggf den Juden in die Schuhe schiebt. Meyrink nimmt zunächst an, findet dann aber keine passenden Worte, zumal er keinerlei patriotische Veranlagung besitzt und sein Leben lieber mit Yoga und Rudern verbringen wollen würde.
Poschenrieder erzählt die Geschichte um die Erstehung bzw Nichterstehung dieses Romans passenderweise fragmentartig anmutend. Er wechselt die Perspektiven zwischen auktorialem und Ich-Erzähler, schiebt bewußt Recherchenotizen und  -Kommentare ein. Der Lesefluss wird so immer wieder unterbrochen, der Leser erlebt das Ringen um Formulierungen fast am eigenen Leibe.
Und genau daran bin ich scheinbar gescheitert. Schob ich meine rasch erlahmende Konzentration am ersten Leseabend noch der Müdigkeit zu, musste ich nach und nach betreten feststellen, dass der Grund ein anderer ist: Langeweile. Konnte ich Meyrinks Ringen theoretisch nachvollziehen, ließ es mich jedoch praktisch völlig kalt. Dabei ist das Thema eigentlich hochinteressant. Nachdem der gewünschte Roman vom deutsch-nationalen Politiker Wichtl doch noch verfasst wurde, öffnete er Tür und Tor für die Dolchstoßlegende und Verschwörungstheorien aller Art über die Freimaurer.
Schlußendlich bleibt bei aller Formulierungs- und Konzipierungskunst ein unfertiger Eindruck. Meyrink wirkt seltsam abgelöst von den politischen Ereignissen um ihn herum, Erzählstränge finden nicht zueinander.
Der Roman und ich auch nicht, so verzweifelt ich das auch wünschte. Was mich aber nicht hindern wird, beim nächsten Mal wieder in jubelnde Vorfreude zu verfallen.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

„Das Leben ist uns verboten“

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Der Reisende
Ulrich Alexander Boschwitz
erschienen 2018 im Klett-Cotta Verlag
ISBN 978-3-608-98123-0

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Gelesen schon vor geraumer Zeit, gehört dieses Buch zu einem Stapel zu besprechender Bücher, die, bedingt durch einen Umzug, in einen Karton verpackt in der Ecke standen und erst jetzt so nach und nach ans Tageslicht kommen. Während ich allerdings bei den anderen Büchern herumblättere und mich erneut einlesen muss, ist das hier nicht nötig. Ulrich Alexander Boschwitz‘ Roman „Der Reisende“ ist so eindringlich geschrieben und hinterlässt eine so nachhaltige Mischung aus Beklemmung, Wut und Trauer, dass man es so schnell nicht vergisst.
Boschwitz, 1915 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns und einer Senatorentochter geboren, emigriert 1935 nach Schweden und über Umwege nach England. Dort kommt er nach Kriegsausbruch in ein Internierungslager für „feindliche Ausländer“ und wird nach Australien deportiert. 1942 wird das Schiff, auf dem er die Rückreise antritt von einem deutschen Uboot torpediert. Boschwitz stirbt mit 27 Jahren. Er hinterlässt zwei Bücher. „Menschen neben dem Leben“ erscheint 1937 in Schweden und „Der Reisende“ 1939 in England unter dem Pseudonym John Grane. Beide Bücher sind nun dankenswerterweise über Klett-Cotta erhältlich.
„Der Reisende“ erzählt die letzten Wochen des jüdischen Kaufmanns Otto Silbermann. Während der Novemberpogrome 1938 muss er aus seiner Wohnung fliehen. Alles, was ihm bleibt, ist ein Koffer mit Geld. Auf der Suche nach einer Ausreisemöglichkeit fährt er damit im Zug durch Deutschland. Und verliert dabei Stück für Stück alles, was ihn ausgemacht hat: Status, Freunde, Familie, Werte.
Silbermann sieht nicht so aus, wie der gemeine Nationalsozialist sich einen Juden vorstellt, daher gelingt es ihm lange, sich durchzumogeln. Und der Leser erfährt deutlich, wie es wohl ist, in einer Gesellschaft zu leben, wo das Aussehen lebensrettend sein kann. Es ist überaus beklemmend zu lesen, wie sich eine Tür nach der nächsten verschließt, wie Silbermann auf der Suche nach einem Ausweg durch Deutschland hetzt, immer isolierter, immer mißtrauischer.
Man kann es sich ja heutzutage kaum noch vorstellen, ein Leben als Verfolgter, ein Leben auf der Flucht. So wenig ist es vorstellbar in unserem Wohlstand, dass ausgerechnet Deutsche gegen Flüchtlinge protestieren und die Grenzen schließen möchten, aus Angst, eine Banane weniger im Obstkorb zu haben. Flüchtlinge möchten ein menschenwürdiges Leben, Freiheit, Sicherheit. Und wenn man Boschwitz‘ Roman liest, begreift man, wie schnell man einen Menschen auch ohne körperliche Gewalt brechen kann, durch Entzug der Menschenwürde.
Das Buch ist heute so aktuell wie zu der Zeit, in der es geschrieben wurde. Immer noch müssen Synagogen geschützt werden, immer noch können Juden kein freies Leben führen ohne Angst. Nein, inzwischen müssen sie sogar wieder deutlich mehr um ihr Leben fürchten als in den Jahren zuvor. Antisemitismus scheint in den Köpfen nicht löschbar zu sein. Wie genau sich Antisemitismus eigentlich zeigt, wie unmenschlich dieses Denken ist, auch das beschreibt „Der Reisende“ deutlich.
Das, was Menschen wie Silbermann erleiden mussten, das darf sich nicht wiederholen. Und deshalb hat Klett-Cotta die Boschwitz-Romane zur rechten Zeit aufgelegt. Denn neben großartiger Literatur sind sie ein Mahnmal für Menschlichkeit und Frieden.

Weitere Besprechungen:

Aufklappen https://aufklappen.wordpress.com/2019/07/01/bahnreise-durch-feindesland-ulrich-alexander-boschwitz-der-reisende/
feinerbuchstoff https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2018/11/29/unsichtbar-werden/
Kaffeehaussitzer https://kaffeehaussitzer.de/ulrich-alexander-boschwitz-der-reisende/

Danach

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Die Rückkehr
Ernst Lothar
erschienen am 10. Juni 2019 im btb Verlag
ISBN 978-3-442-71794-1

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1949 erschien dieser Roman erstmalig. Und thematisierte etwas, das damals niemand hören oder lesen wollte. In heutiger Zeit, mit einer wiedererstarkenden Rechten, ist „Die Rückkehr“ ein wichtiges Zeitdokument, das Einblick gibt in die direkte Nachkriegszeit.
1938 emigriert die österreichische Bankiersfamilie von Geldern in die USA. Nun, 1946, reist der jüngste Spross des Hauses, Felix von Geldern, mit seiner Großmutter Viktoria nach Wien. Vordergründig um finanzielle Angelegenheiten der Familie zu regeln, eigentlich aber, um seine Heimat wiederzusehen und seine Mutter, die die Ausreise damals verweigert hatte. Sie ist liiert mit einem Nazi-Mitläufer und konnte oder wollte sich nicht trennen. Damit geht ein Riss durch die engste Familie. Viktoria lehnt Felix‘ Mutter wegen ihrer Haltung ab, Felix steht zwischen den Stühlen, denn einerseits liebt er seine Mutter, andererseits teilt er Viktorias Einschätzung.
Felix ist in der Zwischenzeit amerikanischer Staatsbürger geworden, verlobt mit einer jungen Amerikanerin. Er trauert jedoch immer noch um seine Jugendliebe, die im Krieg umgekommen sein soll. Als er sie quicklebendig wiedersieht, überrollt ihn die Tiefe seiner noch vorhandenen Gefühle. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Gertrud um des Vorteils willen eine Affäre mit Goebbels eingegangen ist und nun mit einem Amerikaner liiert ist.
Und das ist der Kern des Romans. Es gibt keine einfachen Einteilungen in schwarz oder weiß im Leben. Gertrud ist Felix‘ große Liebe und er muss erkennen, dass seine Gefühle sich wenig darum scheren, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Nun ist dies aber keine kitschige Liebesgeschichte mit Happy End, sondern ein realistischer Nachkriegsroman. Und eine Affäre mit Goebbels kann man nicht einfach aus dem Lebenslauf streichen, genausowenig wie man an die Vergangenheit nahtlos anknüpfen kann. Und so muss Felix erleben, dass der Besuch in seiner alten Heimat zunehmend schwieriger wird und er immer zerissener. Bei jeder Begegnung stellt sich als erstes die Frage, was hat der- oder diejenige im Krieg gemacht, auf welcher Seite stehen die einzelnen Personen.
Felix gehört nirgendwo so wirklich hin. Er ist amerikanischer Staatsbürger, aber eben nicht gebürtig. Also betrachten ihn die Amerikaner bisweilen mit Misstrauen. Er ist kein Österreicher mehr, das nehmen ihm die Landsleute übel. Er hat die Emigrationszeit vergleichsweise angenehm verbracht, das trennt ihn von den Menschen, die in den Lagern leiden mussten. Er bzw seine Familie ist wohlhabend, das ruft bei den ausgebombten und hungernden Wienern Missgunst und Neid hervor. Und den immer noch offen auftretenden Nazis ist er eh ein Dorn im Auge.
Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Roman 1949 nicht gerade begrüßt wurde. Niemand wollte damals eine so harte Beschreibung der vorhandenen Situation lesen. Und vor allem wollte sich wohl kaum einer der Schuld-Frage stellen. Der Krieg war vorbei, nun wurde wieder aufgebaut. An Hunger und Not waren die Besetzer schuld, der Grund für den Krieg schnell vergessen. Die Amis waren doch reich, da hätten sie ja wohl mehr abgeben können, sich mehr kümmern können. Schließlich hatte man sich ja nicht selbst ausgebombt…
Ernst Lothar beschrieb wohl mehr oder weniger, was er selbst erlebt hatte. Er war gelernter Jurist wie seine Figur Felix von Geldern, arbeitete aber später als Theaterkritiker und Intendant des Theaters in der Josefstadt. 1938 flüchtete er in die USA, 1946 kehrte er als Theater- und Musikbeauftragter des US Departments of State zurück. Anders als von Geldern war Lothar Jude, seine Flucht daher nicht freiwillig, sondern lebensnotwendig. Sein Bezug zum Theater fließt wohl in die Figur der Gertrud, einer ehrgeizigen jungen Opernsängerin.
Ein Roman, der zu Recht neu aufgelegt wurde und es verdient gelesen zu werden. Fast würde ich sagen, ein Roman, den jeder lesen sollte, um sich ein Bild zu machen von der damaligen Zeit zum einen und zum anderen, um die Parallelen zur heutigen Zeit zu erkennen, die Verhaltensmuster und Methoden der Nazis und ihrer Mitläufer, die sich nicht einen Deut geändert haben und unfassbarerweise wieder funktionieren, als hätte die Vergangenheit nicht stattgefunden.

Ich danke dem btb Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Besprechungen:

Zeichen & Zeiten https://zeichenundzeiten.com/2018/08/23/fremde-heimat-ernst-lothar-die-rueckkehr/