„Im Frühling liebe ich die Morgendämmerung“

Kopfkissenbuch von Sei Shonagon

Kopfkissenbuch
Sei Shonagon
Aus dem Japanischen von Michael Stein
erschienen am 15.April 2019 im Manesse Verlag
ISBN 978-3-7175-2488-5

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Sei Shonagon erblickt um 966 in Japan das Licht der Welt, als Tochter eines Provinzstatthalters. Sie erhält schon früh Zugang zu Literatur und Lyrik, ihr Vater ist ein anerkannter Experte für Dichtkunst. Das ist ungewöhnlich für ein Mädchen, aber es wird von einem sehr engen Verhältnis zwischen Vater und Tochter berichtet.
Etwa um 990 tritt Shonagon in den Dienst als Zofe der Kaiserin Sadako, dort beginnt sie ihr Kopfkissenbuch zu schreiben, eine Art Tagebuch. Sie berichtet über Hofklatsch und Intrigen, über Feste, ihr Verhältnis zur Kaiserin, über Vorlieben und Abneigungen.
Dem Manesse Verlag ist es zu verdanken, dass dieses Tagebuch nun erstmals vollständig übersetzt vorliegt. Nachwort, Personenverzeichnis und Anmerkungen komplettieren diese sorgfältig gestaltete Ausgabe, die es dem Leser ermöglicht seinen Blick eintausend Jahre zurück zu senden, an den japanischen Kaiserhof der Heian-Zeit. Shonagons Betrachtungen sind erstaunlich wenig gealtert, elegant formuliert und zeigen einen intelligenten und klaren Blick auf ihr Umfeld. Ihre Beschreibungen des Hofzeremoniells oder diverser Festlichkeiten sind lebendig und farbenfroh, ihre Charakterisierungen hochrangiger Persönlichkeiten sind zumeist überaus scharfzüngig und pointiert. Es ist ein wahres Lesevergnügen, Shonagon in ihre Welt zu folgen. Beeindruckend ist ihr Blick für Stimmungen, Natur oder Schönheit im Alltag. Die Kehrseite ist die Verachtung alles Häßlichen und Ärmlichen, ein typisches Verhalten privilegierter Menschen ihrer Zeit.
Besonders hervorzuheben ist an dieser Übersetzung das Fehlen jeglichen Japankitschs. Die Sprache ist poetisch und präzise, ohne falsche Überzuckerungen oder schwülstige Formulierungen. Daher ist es nur angemessen, Michael Stein für diese wunderbar feinfühlige Ausgabe zu danken, die einen Klassiker japanischer Literatur zu neuem Leben erweckt hat.

Ich danke dem Manesse Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Chapeau, Mr. Wilder!

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Hat es Spass gemacht, Mr. Wilder?
Billy Wilder & Cameron Crowe
Aus dem amerikanischen Englisch von Rolf Thissen
erschienen am 06. Mai 2019 im Kampa Verlag
ISBN 978-3-311-14008-5

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Unter dem Namen Kampa Salon bringt der noch junge, aber überaus engagierte Kampa Verlag Gesprächsbände heraus, mit namhaften Schriftstellern, Denkern, Regisseuren, Kulturschaffenden.
Und innerhalb dieser Reihe sind nun auch die Aufzeichnungen Cameron Crowes erschienen, der das rare Glück hatte, mit dem wohl bekanntesten Regisseur seiner Zeit, Billy Wilder, über seine Filme und sein Leben plaudern zu dürfen. Wilder drehte mit den damaligen Hollywoodgrößen, mit Audrey Hepburn, Marilyn Monroe, Marlene Dietrich, mit Jack Lemmon, Gary Cooper, Humphrey Bogart, um nur einige zu nennen. Jeder seiner Filme ist besonders, viele Filme sind auch heute noch weltweit bekannt und beliebt.
Es ist unfassbar großartig, dass es Crowe gelang, den interviewscheuen Wilder zu überzeugen, denn herausgekommen ist ein Gesprächsband, der gleichermaßen lebensklug, charmant und witzig ist. Der 90jährige Wilder plaudert aus dem Nähkästchen, erzählt von Dreharbeiten, von Schauspielermarotten, bewertet seine eigenen Filme und hat sogar bisweilen Tipps für seinen jungen Kollegen. Selbst das Privatleben wird gestreift, Wilders Jugend in Deutschland, der Verlust seiner Familie in Auschwitz. Wilder weicht dabei häufig geschickt aus, es gibt Bereiche, über die er sichtlich nicht sprechen möchte. Das ist nachvollziehbar zum einen und zum anderen bietet sein Hollywoodleben genügend Gesprächsstoff für den faszinierten Leser. Eine komplette Ära wird hier erneut zum Leben erweckt, Glanz und Glamour inklusive.
Ich interessiere mich schon recht lange für Filmgeschichte und kenne daher die meisten der angesprochenen Filme. Ich habe dieses Buch mit großem Vergnügen gelesen und füge es mit ebenso großer Freude meiner Film- und Theaterbuchsammlung hinzu. Für einen Leser, der keinen Billy Wilder-Film kennt, dürfte es allerdings ein wenig schwierig zu lesen sein. Am besten besorgt man sich vorher „Manche mögen’s heiss“, „Zeugin der Anklage“, „Sabrina“ oder „Das Appartement“ (oder alle zusammen) und sieht sich die Filme an. Wem sie nicht gefallen, dem ist eh nicht zu helfen und alle anderen können dann den trockenen Humor Wilders genießen, der schon seine Filme so herausragend gemacht hat.

Ich danke dem Kampa Verlag herzlich für das Leseexemplar und werde es hegen und pflegen und regelmäßig anstrahlen.

Operation an der lebenden Schriftstellerin

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Erinnerung eines Mädchens
Annie Ernaux
Aus dem Französischen von Sonja Finck
erschienen am 02.10.2018 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42792-7

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„How can we know the dancer from the dance?“ – Aus „Among School Children“ von William Butler Yeats

Diese Zeile ging mir beim Lesen von Annie Ernauxs Buch nicht aus dem Kopf. Sie schreibt über ihre Erinnerungen an sich selbst als junges Mädchen von 18 Jahren. Es ist der Sommer 1958 und Annie kehrt zum ersten Mal dem Elternhaus den Rücken. Sie ist Jugendbetreuerin in einem Sommercamp und voll freudiger Erwartung der Abenteuer, die da kommen mögen. Die lassen auch nicht auf sich warten. Nur werden sie Annie für immer belasten und Wunden schlagen, die nicht wirklich heilen.
Bücher wie dieses sind wichtig. Es ist gut und richtig, dass Frauen offen sprechen über Mißbrauch, und über das, was man heute Mobbing nennt. Es ist wichtig, dass Mädchen lernen, sich und ihren Körper wertzuschätzen und nicht den Begierden anderer zu unterwerfen.
Denn das, was mit Annie geschehen ist, ist sicherlich viel mehr Frauen genauso ergangen, als wir vermuten. Und solange die Schuld bei sexueller Nötigung auf die Frau abgeladen wird, herrscht eben Scham und Schweigen.
Deshalb ist es großartig, wenn gerade Frauen der älteren Generationen dieses Schweigen brechen, wenn sie imstande sind, die Geschehnisse im Nachhinein richtig einzuordnen, wenn sie erkennen, dass nicht sie diejenigen sind, die sich zu schämen haben.
Aber Annie Ernaux geht weiter. Sie seziert das Mädchen förmlich, das sie einmal war. Kühl und beherrscht analysiert sie die Umstände, versucht Gefühle nachzuvollziehen und daraus resultierende Handlungen. Die junge Annie könnte auch eine Fremde sein, ein erfundener Charakter. Das Ringen um Genauigkeit zeigt, dass es nicht so ist.
Aber, und damit kommen wir zu Yeats, wie tief muss die Verletzung gegangen sein, dass ein Mensch sich derartig von sich selbst trennen kann? Der Text ist in seiner kühlen Emotionslosigkeit erschütternd, emotionslos wohlgemerkt, nicht gefühllos. Annie Ernaux weiß sehr wohl, wie es dem jungen Mädchen ergangen ist, hat sich aber soweit abgekoppelt, dass sie über sich selbst nur Vermutungen anstellen kann:
“ Ich folge diesem Mädchen von Bild zu Bild, seit dem Abend, als sie mit ihrer Zimmergenossin den Keller betreten und H sie zum Tanzen aufgefordert hat, aber es gelingt mir nicht, die Bewegung zu verstehen, die Logik, die zu ihrem derzeitigen Zustand geführt hat.“
Es ist mir nicht leicht gefallen, dieses Buch zu lesen. Da, wo ich wütend geworden bin, blieb Ernaux kühl, da, wo ich am liebsten geschrien und getobt hätte gegen die Ungerechtigkeiten, gegen den Machtmißbrauch, gegen die damaligen Sitten, analysiert sie die Situation.
Und trotzdem, Frauen, lest Annie Ernauxs Erinnerungen, sie sind ein Meilenstein in der Frauenliteratur und öffnen die Augen über Machtstrukturen und die Mechanismen, die Frauen immer wieder in die Schuldfalle schicken. Und geht danach hoffentlich mit geraderem Rücken durchs Leben.

 

 

Lebensentwürfe

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Ich und meine Mutter
Vivian Gornick
Aus dem Englischen von pociao
erschienen am 15.April 2019 im Penguin Verlag
ISBN 978-3-328-60030-5

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Ein wichtiger Teil der Selbstfindung ist es, sich über die eigenen Möglichkeiten klar zu werden, Lebenswünsche benennen zu können und sie auch umsetzen zu dürfen. Das ist Frauen noch gar nicht so lange möglich. Vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, musste mühsam errungen werden. Und damit wir das nicht vergessen, ist es wichtig, sich zu erinnern bzw die Erinnerungen anderer wahrzunehmen.
Vivian Gornick wurde 1935 in New York geboren. Sie ist gut in der Schule, ein Studium wird ihr ermöglicht, beileibe keine Selbstverständlichkeit in den 50iger Jahren des letzten Jahrhunderts, sie wird Journalistin und Frauenrechtlerin.
Ihre Eltern sind jüdische Einwanderer, der Vater stirbt früh, die Mutter setzt ihr Bestreben darein, eine perfekte Hausfrau zu sein. Sie ist selbstgerecht und tyrannisch, ikonisiert die Liebe zu ihrem Mann. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist schwierig, Neid auf seiten der Mutter, Unverständnis bei der Tochter.
Erst in späteren Gesprächen wird deutlich, wie sehr der Mutter die Flügel gestutzt wurden. Die Liebe zu ihrem Mann wird zum Lebensinhalt, weil ihr Leben keinen anderen Inhalt hat/ haben darf. Sie hätte gerne gearbeitet, wäre gerne gereist, doch das ist für Frauen ihrer Zeit und ihres Standes selten vorgesehen. Tugendhafte Mutter und Hausfrau zu sein, ist das Ideal der Zeit.
Ihre aufgestaute Wut läßt sie an der Tochter aus, die ihre Möglichkeiten nutzt und sich damit von ihrer Familie löst. Andererseits scheint Vivian Gornick ihre Mutter als Spiegel, als Sparringspartner zu brauchen. Die Verbindung hält lebenslang, die Hassliebe auch. Es ist eben schwierig, wenn die Person, die einen am besten versteht, auch diejenige ist, die am härtesten und grausamsten kritisiert.
Vivian Gornick gewährt einen tiefen Einblick in ihr Leben, kommentiert und sinniert klug über ihre Einflüsse, über prägende Persönlichkeiten. Das ist hochinteressant zu lesen, bisweilen auch schmerzhaft, zumal man nicht umhin kommt, über das eigene Leben nachzudenken, über Träume, Wurzeln, Ideale, über das, was einen prägt und Ballast, der einen hemmt.
„Fierce Attachments“, so der Originaltitel, erschien 1987 erstmals und die mir hier vorliegende Ausgabe ist die deutsche Erstausgabe. Mehr noch, es ist laut Verlag das erste ins Deutsche übersetzte Buch der Autorin überhaupt. Und das gibt mir doch sehr zu denken. Und erinnert mich daran, dass es keinen Grund gibt, die Hände in den Schoss zu legen. Denn ein ähnlicher Klassiker eines männlichen Autoren wäre sicherlich schon längt übersetzt worden.

Ich danke dem Penguin Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Besprechungen:

Sätze & Schätze https://saetzeundschaetze.com/2019/04/20/vivian-gornick-ich-und-meine-mutter/

Das Lied bleibt in Ewigkeit

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Der Sänger
Lukas Hartmann
erschienen am 24.April 2019 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07052-1

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Jahrelang blieben meine Schallplatten in Umzugskartons. Ich hatte keinen geeigneten Schallplattenspieler mehr und auch nicht den rechten Platz. Nach einem Umzug ist das nun erfreulicherweise anders. Die erste Stimme, die auf dem neuen Gerät erklingen durfte, war die eines kleinen Sängers mit einer unfassbar großen Stimme: Josef Schmidt. Und unfehlbar stellt sich ein, was mancher als kitschig betrachten mag, das Gefühl, welche Gnade es ist, so eine Stimme hören zu dürfen. Das war schon immer so und es hat sich scheinbar nicht geändert.
Als nun der Diogenes Verlag Hartmanns Buch über Schmidt ankündigte, war sofort klar, dass ich es lesen würde. Schon sein Roman über Lydia Welti-Escher gefiel mir sehr gut und seltsamerweise hatte ich mich mit Schmidts Leben bisher nur wenig beschäftigt. Ich wußte nur Eckdaten: den frühen Tod auf der Flucht vor den Nazis, die Probleme mit seiner Größe auf der Bühne, sein Frauen“verschleiß“.
Lukas Hartmann schreibt vornehmlich über die letzten Wochen Josef Schmidts. In Einschüben erfahren wir etwas über seine Jugend in der Bukowina, über erste Gesangeserfolge in der Synagoge, dann folgt der weltweite Ruhm, den er schlußendlich so bitter mit seinem Tod bezahlen muss. Nach Frankreich ist er zunächst geflohen und möchte nun, da es im besetzten Land nicht mehr sicher ist, über die Grenze in die Schweiz. Die Grenzen sind allerdings für Flüchtlinge geschlossen, ganz speziell für jüdische Flüchtlinge, denn Antisemitismus ist auch in der Schweiz nicht unbekannt. Außerdem quält die Schweizer die Angst um ihren Lebensstandard und natürlich auch vor Hitlers Reaktion. Dank eines Schleppers gelingt es Schmidt dennoch, er kommt in ein Schweizer Flüchtlingslager. Und dort statuiert man ein Exempel an dem müden, kranken Mann. Sein Status als Berühmtheit dürfe ihm nicht zum Vorteil gereichen, er sei zu behandeln wie jeder andere auch. Sein sich zunehmend verschlechternder Gesundheitszustand wird ignoriert, bis Schmidt im Lager elendiglich verreckt. Einen anderen Ausdruck finde ich nicht dafür.
Erschreckend an dem Buch ist nicht nur der letzte Weg des großen Sängers, sondern es sind auch die Parallelen zur Gegenwart, die schaudern machen. Die Argumente gegen die Aufnahme von Flüchtlingen haben sich nämlich in all der Zeit keinen Deut geändert, sind nur alter Wein in neuen Schläuchen. Heute lesen wir mit Entsetzen, dass jüdische Flüchtlinge über die Grenzen zurückgeschickt wurden, zurück in den sicheren Tod. Es bleibt zu hoffen, dass spätere Generationen genauso mit Unverständnis auf mangelnde Hilfeleistung im Mittelmeer und an anderen Brennpunkten schauen. Und vielleicht aus unseren Fehlern lernen. Uns ist das ja scheinbar nicht gelungen.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Besprechungen:

literaturreich https://literaturreich.wordpress.com/2019/05/25/lukas-hartmann-der-saenger/
literaturgeflüster https://literaturgefluester.wordpress.com/2019/05/03/der-saenger/

Eine Reise in die Antike

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Eine Odyssee
Mein Vater, ein Epos und ich
Daniel Mendelsohn
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
erschienen am 04. März 2019 im Siedler Verlag
ISBN 978-3-8275-0063-2

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Es gibt sie meist nur einmal im Jahr, diese ganz besonderen Bücher, die sich abheben von der Masse, die anders sind, in kein Raster passen. In diesem Jahr scheint das Mendelsohns „Eine Odyssee“ zu sein. Das Buch eines Altphilologen über die Irrfahrten des Odysseus, aber auch darüber, was man heute noch aus einem jahrhundertealten Epos lernen kann und ein Buch über Beziehungen, zwischen Partnern, zwischen Eltern und Kindern. Weiterlesen

Doch bevor es Nacht wird, liegt er wieder droben…

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Brecht
Heinrich Breloer
erschienen am 14.02.2019 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-05198-8

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Brecht. Roman seines Lebens. So lautet der knappe Titel dieses 527-Seiten-Wälzers. 527 Seiten, das ist doch nicht viel, wird so mancher denken. Und dann noch unzählige Photos, das liest sich doch recht schnell. Irrtum. Das zieht sich wie die B4. Rechts ein Dorf und links ein Baum und immer geradeaus.
Zunächst muss man wissen, dass das Ganze ein Buch zum Film ist. Es gibt einen Film? Es gibt einen Film. Mit Burghart Klaußner als Brecht und Adele Neuhauser als Helene Weigel. Die beigefügten Bilder sind daher meist aus diesem Film, Originalphotos sind so gut wie nicht vorhanden. Die etwas unbeholfen eingefügten Erklärungen zu Drehbelangen hätte es meiner Meinung nach nicht gebraucht, aber vielleicht gehören die zu einem solchen Buch-Film-Konzept zwingend dazu, wer weiß?
Dann „Roman seines Lebens“, nicht Biographie. Breloer füllt seine Recherchelücken mit hättekönntewürde, geschrieben wie eine penible Inhaltsangabe des Films: „Augsburg, eine Gasse in der Nacht. Wir blicken auf eine hohe Mauer. Ein Lampion erscheint, wie ein Ton auf einer Notenlinie…“ (S.42)
Es geht um den „privaten“ Brecht, um den Menschen hinter der Fassade des Genies, weniger um seine Werke. Die werden natürlich genannt, größere Erfolge oder Niederlagen am Theater auch beschrieben, an der Recherche ist nichts auszusetzen, aber in erster Linie sind es die Beziehungen und Liebschaften, die rechts und links unserer Landstraße liegen, die den Autor angezogen haben müssen wie die Motte das Licht.
Und, was soll ich sagen? In der nächsten Zeit wird niemand den Namen Brecht nennen können, ohne dass es mich gewaltig schüttelt. Ein zudringlicher Widerling, egoistisch, narzistisch und gefühlskalt, dabei zum Ausgleich rücksichtslos, Herr der Besetzungscouch und lüstern über jede Jungschauspielerin herfallend. Aber nur so konnte er selbstverständlich das Beste aus den Damen herausholen. Aha.
Brechts Genie waren alle untertan, der hatte immer das hellste und größte Zimmer und ausreichend Platz für seinen Harem. Und so geben sich 527 Seiten lang die Bewunderinnen die Türklinke in die Hand. Dazwischen schreibt der Meister Stücke und huldigt dem Kommunismus. Lebt in seiner Theater- und Schlafzimmerblase und verpasst die tatsächlichen Ereignisse in der DDR. Waren nun aber auch nicht seine Probleme, der Brecht konnte ja ein- und ausreisen und seine Meinung ungestraft kundtun. Puh.
Ich bin mit Brechts Texten groß geworden. Vor allem mit der Dreigroschenoper und Mahagonny, aber natürlich auch mit der Courage oder der Heiligen Johanna. Sein episches Theater, sein Umgang mit der Sprache, seine Forderung, das Publikum selbst denken zu lassen, haben Großes und Großartiges auf den Theaterbühnen entstehen lassen.
Dem Menschen Brecht, wenn er denn Breloers Beschreibungen entsprochen hat und davon gehe ich doch weitestgehend aus, dem Menschen hätte ich nicht begegnen mögen. Der Autor Brecht hat die Theater gefüllt, der Mensch Brecht hat mich in seiner Vorhersehbarkeit geärgert und gelangweilt. Eine Liebelei und noch eine Liebelei, und das in Endlosschleife.
Oder wie er es selbst formuliert hat in der „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“:

Da steht nun einer fast schon unterm Galgen
Der Kalk ist schon gekauft, ihn einzukalken.
Sein Leben hängt an einem brüch’gen Fädchen.
Und was hat er im Kopf, der Bursche? Mädchen!
Schon unterm Galgen, ist er noch bereit.
Das ist die sexuelle Hörigkeit.

 

Shakespeare in Tasmanien

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In Tasmanien

Nicholas Shakespeare

Aus dem Englischen von Hans M. Herzog

erschienen am 01.02.2005 im Mare Verlag

ISBN 978-3-936384-40-6

 

Nicholas nicht William. Man möge mir den Titelscherz verzeihen, es war einfach zu verlockend. Wenn auch nicht ganz so berühmt wie sein Namensvetter, so ist Nicholas Shakespeare dennoch ein Garant für gehobene britische Literatur. Ich habe einige seiner Romane mit großem Vergnügen gelesen und mich ehrlich gefreut, als ich dieses Buch in einem meiner Stapel mit ungelesenen Büchern entdeckt habe. (Eine Zeit lang habe ich mit System gelesen, immer ein altes und ein neues Buch im Wechsel. Neue Bücher wurden strikt hinten unten einsortiert und waren bis sie vorne oben angekommen waren meist vergessen. Daher habe ich tatsächlich Fundstücke im Bestand. Erstaunlicherweise erwerbe ich trotzdem Bücher nie doppelt, bisher jedenfalls nicht.)
„In Tasmanien“ nun ist kein Roman, sondern eine Art Spurensuche. Die Geschichte Tasmaniens ist nämlich eng verknüpft mit einem Teil der Familie des Schriftstellers. Anthony Fenn Kemp, einer der selbsternannten Gründerväter des Landes war der Schwager des Vaters seiner Großmutter, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Indem er das abenteuerliche Leben dieses Verwandten rekonstruiert, erkundet Shakespeare auch die Geschichte des Eilands Tasmanien, einer ehemaligen Sträflingskolonie Großbritanniens, die 1901 ihre Unabhängigkeit erlangt. Weil es ihm aber nicht genügt, nur über den britischen Part zu berichten, folgen auch Ausführungen über Leben, Elend und Sterben der Aborigines und die vermutliche Ausrottung des tasmanischen Tigers.
Ich denke, man muss sich schon ein wenig für Land und Leute interessieren, um an dieser literarischen Rundreise Gefallen zu finden. Ich fand es streckenweise wirklich hochspannend, wie es Shakespeare gelingt Vergangenes wieder zum Leben zu erwecken. Und die Familienüberlieferung kennt eben so manche Anekdote zu den Hauptpersonen, die kein Geschichtsbuch liefern würde. Andererseits führt Shakespeares akribische Detailliebe bisweilen auch zu einem dezenten Gähnen. Allerdings wirklich nicht oft, und wer daher die Möglichkeit hat, dieses inzwischen vergriffene Buch zu lesen, der sollte nicht zögern, geht aber das Risiko ein, danach kurzerhand in den nächsten Flieger steigen zu wollen, um die Schauplätze mit eigenen Augen zu erkunden.

 

 

Rundherum schön

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Meine Familie und andere Tiere

Gerald Durrell

Aus dem Englischen von Andree Hesse

erschienen am 02.11.2018 im Piper Verlag

ISBN 978-3-492-05917-6

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Endlich kann ich mal wieder hemmungslos schwärmen! Dieses Buch ist nahezu perfekt. Zum einen hat es einen wunderbar passenden Einband, auf dem viele der Tierchen zu sehen sind, denen man im Laufe der Lektüre begegnet und zum anderen ist es einfach so charmant und lustig geschrieben, dass man es nur höchst ungern wieder aus der Hand legt.
Auf der Flucht vor dem nasskalten Wetter Englands zieht die Familie Durrell auf die griechische Sonneninsel Korfu. Fünf Jahre bleiben sie dort, fünf Jahre, die allen unvergesslich geblieben sein dürften. Zu diesem Zeitpunkt ist der Autor Gerald Durrell zehn Jahre alt und interessiert sich zum Leidwesen seiner Familie sehr für die Fauna der Insel. Im Laufe der Jahre nehmen sie vier Hunde, diverse Schildkröten, eine Möwe, zwei Elstern und anderes Getier, einschließlich einer Skorpionmutter und Brut, bei sich auf. Meine Bewunderung gilt dabei Mutter Louisa, die mit unendlicher Ruhe und Liebenswürdigkeit die Eskapaden ihrer Kinder ausbadet. Denn neben Gerry wären da noch der dreiundzwanzigjährige Larry, auf dem Wege zum Schriftsteller, allwissend und über den Dingen stehend; der neunzehnjährige Leslie, ein Waffennarr und Traumschiffbauer und die achtzehnjährige Margo, deren knappe Badeanzüge die gesamte männliche Inseljugend auf den Plan ruft.
Selten habe ich ein so unbeschwert fröhliches Buch gelesen, so durchgehend geschmunzelt und gekichert. Diese Erinnerungen sind sonnenwarm und liebevoll und so gut geschrieben, dass ich sogar die detaillierten Beschreibungen diverser Insekten hochspannend fand. Und ich bin sonst kein großer Freund langbeiniger Krabbelviecher…
Eine meiner liebsten Szenen ist diese: Gerry hat Geburtstag und die Familie plant eine kleine, feine Feier. “ Wir hatten abgemacht, nur wenige Leute zur Party einzuladen. Menschenmassen seien nicht unsere Sache, sagten wir uns, und deshalb hielten wir zehn sorgfältig ausgesuchte Gäste für das Äußerste, worauf wir uns einlassen wollten. (…) Nachdem wir uns einvernehmlich darauf geeinigt hatten, ging jedes Familienmitglied los und lud zehn Leute ein.“ Erst am Tag vor der Party fällt auf, dass jeder andere zehn Leute geladen hatte und es nun 46 zu erwartende Gäste sind. Natürlich rettet die Mutter die Situation und es wird ein schönes Fest.
Aus dem kleinen Gerry wurde übrigens ein weltweit bekannter Tierschützer und Erforscher seltener Arten. Das mag auch daran gelegen haben, wie offen seine Familie seine Interessen unterstützt und gefördert hat. Und so ist dieses Buch eigentlich nicht nur charmant, sondern auch eine Art Lehrbuch für den Umgang mit Kindern. Obwohl ich persönlich keine Wasserschlangen in der Badewanne haben möchte, aber sogar die findet man ganz nett, so lange, wie sie in der Geschichte bleiben jedenfalls.
„Meine Familie und andere Tiere“ ist meine diesjährige Empfehlung für Weihnachtsgeschenkesuchende. Es ist herzerwärmend, aber nicht kitschig, leicht zu lesen, aber nicht seicht, witzig, aber nicht albern, kurz: es ist nahezu perfekt.

Ich danke dem Piper Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Martha Gellhorn

9783351037451

Hemingway und ich

Paula McLain

Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer

am 05.10.2018 erschienen im Aufbau Verlag

ISBN 978-3-351-03745-1

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Derzeit ist mein Leseglück doch recht wechselhaft. Ein paar der letzten Romane, auf deren Erscheinungsdatum ich mich gefreut hatte, entsprechen leider so gar nicht meinen Erwartungen. Dazu zählt auch dieser Roman.
Nun, was habe ich hier erwartet? Paula McLain baut ihre Bücher immer gleich auf: sie sucht sich eine interessante, ungewöhnliche Frau und erzählt ihr Leben in einer Mischung aus Fakten und Fiktion. Bei Ernest Hemingways erster Frau Hadley ist ihr das meiner Meinung nach recht gut gelungen, zumindest habe ich gute Erinnerungen an dieses schon vor längerer Zeit gelesene Buch. Daher war ich durchaus glücklich, als ich gesehen habe, dass sie sich nun auch Martha Gellhorns angenommen hat, Hemingways dritter Frau.
Martha Gellhorn war eine der ersten weiblichen Kriegsberichterstatterinnen, immer mitten im Geschehen und der Gefahrenzone. Sie war ihrer Zeit in vielen Punkten voraus, emanzipiert, eigenständig und auf Augenhöhe mit ihren männlichen Kollegen. Die kurze Ehe mit Hemingway war eher eine Fußnote in ihrem Leben, ein Irrtum in jungen Jahren und wohl auch eine wenig glückliche Zeit insgesamt.
Sie lernt den deutlich älteren Hemingway per Zufall in einem Familienurlaub kennen und folgt ihm 1937 an die spanische Front. Dort werden die beiden ein Liebespaar. Hemingway bewundert die durchsetzungsfähige, selbstbewusste Martha. Nach dem Krieg lassen sie sich auf Kuba nieder und heiraten zügig nach Hemingways Scheidung. Doch das, was früher Bewunderung auslöste, sorgt nun für Probleme. Martha arbeitet weiterhin an einer eigenen Karriere, will nicht nur Mrs Hemingway sein.
Eigentlich ein Selbstgänger: zwei hochinteressante Protagonisten, eine Ehe mit allen Höhen und Tiefen und das in einer Zeit, in der die ganze Welt brennt. McLain dagegen gelingt es fast durchgängig, gepflegte Langeweile mit pathetischem Geschwafel zu verbinden. Nur an wenigen Stellen hatte ich das Gefühl, sie habe sich Gellhorn annähern können. Bei McLain wirkt sie wie eine risikosüchtige verwöhnte High Society-Schönheit, die per Zufall zu ihren Erfolgen kommt. Man kommt Martha als Leser nicht näher, sie bleibt kühl und unnahbar. Nun war sie ja auch keine einfache Persönlichkeit und vielleicht war der Aufbau des Romans mit Gellhorn selbst als Erzählstimme unklug gewählt. Für die hochintelligente Frau, die sie ja war, wirkt sie so nämlich reichlich naiv und unbedarft. In die Beziehung mit Hemingway rutscht sie quasi unvorbereitet und selbst überrascht hinein, der Großteil des Romans besteht aus Gejammer über ihre Schreibblockade und -probleme. Das wird dieser großartigen, aber wohl zu sich und anderen knallharten Frau wirklich nicht gerecht.
Der Roman ist mir, mit einem Wort gesagt, zu seicht. Das ist äußerst schade, wenn man das verschenkte Potential bedenkt.

Ich danke dem Aufbau Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.