Damals
Siri Hustvedt
Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Oswald
erschienen am 05.März 2019 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-03041-4
#supportyourlocalbookstore
Eine junge Frau kommt aus der Provinz nach New York, um einen Roman zu schreiben. Komplett auf sich allein gestellt, versucht sie den Alltag zu bewältigen. Dabei trifft sie naturgemäß auf allerhand Menschen, auch sehr skurrile. Großstadt eben. Und nicht irgendeine, sondern New York. In den ersten Wochen erkundet die junge Frau die Stadt, fährt Strassenbahn, hält sich lange in Buchhandlungen auf, schreibt Tagebuch. Ein Jahr hat sie sich gegeben, ein Jahr lang hat sie ein Stipendium für vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University, in diesem Jahr muss ihr Debütroman fertiggestellt werden, muss aus ihr eine Schriftstellerin werden.
Abgelenkt wird sie von der Nachbarin im angrenzenden Appartement, deren nächtelanges Gemurmel sie wach hält und immer mehr beschäftigt, bis sie sich selbst mit dem Ohr an der Wand wiederfindet…
Siri Hustvedt ist unbestritten eine der intelligentesten Autorinnen der Gegenwart. Und es ist wohl in vielen Teilen ihre eigene Geschichte, die sie hier verarbeitet. Was diesen Text so besonders macht, ist der kluge Blick auf die Details eines weiblichen Lebens in der Großstadt, die ungeschriebenen Do’s und Don’ts für Frauen im öffentlichen Raum, die selbstverständlichen Erwartungen der Männer an gutaussehende Frauen und die genauso selbstverständliche Übergriffigkeit.
Gleichzeitig erlebt man das Werden einer jungen Schriftstellerin, die Prägung der Großstadt auf das Landei, die spürbare Erweiterung des Horizonts und der sich wandelnde Blick auf das Umfeld.
Hustvedt schreibt aus der Warte der gereiften Frau, blickt auf die 23jährige und ihre Vorstellungen und Träume zurück, nutzt Tagebucheinträge, um sich dieser jungen Frau anzunähern. Während Annie Ernaux beispielsweise mit kühlem Blick versucht das frühere Selbst zu sezieren, spielt Hustvedt mit Fiktion und Realität. Der Leser vermeint, die Geschichte der Autorin wiederzuerkennen, kann sich dessen aber nie sicher sein.
„Damals“ ist mein erster Roman von Siri Hustvedt. Und während die Kenner andere Werke bevorzugen, haben mich Schreibstil und Aufbau hier vollkommen überzeugt. Was die Vorfreude auf weitere Romane nur erhöht.
Eine Bemerkung am Rande, die mich aber umtreibt: Siri Hustvedt wird oft vorgeworfen, sie protze beim Schreiben zu sehr mit ihrem Wissen. Warum genau findet man das z.B. bei Umberto Eco charmant und bei einer Frau übertrieben? Und was genau spricht eigentlich dagegen, Wissen einfließen zu lassen, wenn man es denn schon hat?
Es sind Schriftstellerinnen wie Siri Hustvedt, die einen rein männlichen Literaturkanon zu einer verstaubten Lächerlichkeit machen.
Ich danke dem Rowohlt Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.
Weitere Besprechungen:
letteratura https://letteraturablog.wordpress.com/2019/06/27/memories-of-the-future-siri-hustvedt-damals/
literaturleuchtet https://literaturleuchtet.wordpress.com/2019/04/06/siri-hustvedt-damals-rowohlt-verlag/
LiteraturReich https://literaturreich.de/2019/04/13/siri-hustvedt-damals/
Ein rein männlicher Literaturkanon ist per se eine Lächerlichkeit, ebenso wie es ein rein weiblicher wäre. 🙂
Inwieweit man Siri Hustvedt vorwirft, mit ihrem Wissen zu protzen, kann ich nicht beurteilen, weil ich noch kein Buch von ihr gelesen habe. Eins von ihrem Ehemann Paul Auster dagegen schon. Da liegt aber keine böse Absicht dahinter. 😉 Im Kern will ich darauf heraus, dass man Protzerei mit Wissen generell durchaus kritisieren darf, derartiger „Infodump“ (so nennt man das, glaube ich, heute) ist einfach stilistisch nicht gerade elegant.
Und ich persönlich kann das auch bei Umberto Eco nicht leiden, habe „Das Foucaultsche Pendel“ aus genau dem Grund bis heute nicht zu Ende gelesen und kritisiere es beispielsweise auch bei Frank Schätzing, der nur allzu oft der Versuchung unterliegt, Absätze einzufügen, deren einziger Sinn darin besteht, dem Leser zu beweisen, wie dolle intensiv er sich ins Thema eingearbeitet hat.
Genau umgekehrt gelagert ist es mit Werken wie „Lemprière´s Wörterbuch“ von John Norfolk, das einfach unheimlich viel Wissen beim Leser voraussetzt, um es vollständig zu verstehen.
Beide Vorgehensweisen finde ich insgesamt stilistisch eher unglücklich.
Ich weiß also nicht, ob das wirklich ein geschlechtsspezifisches Ding ist. Auch wenn ich natürlich nicht bestreite, dass es sicherlich auch Zeitgenossen gibt, die Hustvedts Bücher wirklich nur deshalb kritisieren, weil sie eine Frau ist. Aber solche Leute haben ganz andere Probleme. 😉
LikeLike
Ich habe es nicht als protzen empfunden. Wenn jemand ein breitgefächertes Wissen hat, dann merkt man das im Normalfall den Texten auch an.
Bei Rushdies Quichotte aber hatte ich zB den Eindruck, dass da so viel an Verlinkungen und Unterbau eingesetzt ist, dass man den Autor innerlich sardonisch grinsen sieht. Und auch Eco baut Informationen ein, die man nicht zwingend braucht.
Aber egal, ob man das nun gut findet oder nicht, habe ich den Eindruck, dass Wissen bei Schriftstellerinnen weniger begrüßt wird…
LikeGefällt 1 Person