Hommage an Erich Kästner

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Friedrich der grosse Detektiv
Philip Kerr
Aus dem Englischen von Christiane Steen
erschienen am 28.01.2020 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-00070-6

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Eigentlich bespreche ich hier ja keine Kinderbücher. Diesmal mache ich eine Ausnahme: erstens, weil das Thema so unglaublich wichtig ist und zweitens, weil es um Erich Kästner geht.
Ein amüsanter Zufall: erst bei der Recherche zu dieser Rezension ist mir aufgefallen, dass gestern die Taschenbuchversion erschienen ist. Ich nehme es als Zeichen für den richtigen Zeitpunkt.
1933. Friedrich und seine Freunde Albert und Viktoria, genannt der Doktor, spielen gerne Detektive. Friedrichs Lieblingsbuch ist „Emil und die Detektive“ und zu seiner großen Freude wohnt der Autor Erich Kästner gleich in der Nähe.
Während sein älterer Bruder Rolf begeisterter Nazianhänger wird und sogar Friedrichs signiertes Lieblingsbuch zur Bücherverbrennung einzieht, lösen Friedrich und seine Bande kleinere Fälle um verlorene Gegenstände. Als dann tatsächlich die Polizei sie um Hilfe bittet, sind sie ganz stolz, bis sie feststellen, dass sie Erich Kästner ausspionieren sollen. Sie berichten stattdessen Kästner davon und müssen bald feststellen, dass unbeschwerte Kinderspiele in ihren Zeiten nicht mehr möglich sind.
Philip Kerr hat ein Kinderbuch geschrieben, dass eigentlich gar keines ist. Zumindest dann nicht, wenn man erwartet, dass in Kinderbüchern trotz aller Probleme, aller Schwierigkeiten und allem Ernst das Ende irgendwie gut ist. Oder hoffnungsvoll. Friedrich lebt aber nicht in hoffnungsvollen Zeiten und Kerr scheint zu meinen, dass man das Kindern auch so vermitteln kann und darf.
Ich habe das Buch gelesen und es gleich weitergereicht an meinen Sohn. Der hatte das Cover entdeckt und kannte Kästners Kinderbücher schon. (Was übrigens ungemein hilft, denke ich. Andererseits, wenn man durch dieses Buch sich veranlasst fühlt, sie zu lesen, ist das natürlich auch gut.) Er wollte das Buch nun unbedingt lesen, während ich ehrlicherweise so meine Zweifel hatte. Ich habe es ihm überlassen mit den Worten, er könne jederzeit mit mir über den Inhalt sprechen. Zwei Tage lang habe ich nichts mehr davon gehört. Dann kam ein heulendes Häufchen Elend aus dem Kinderzimmer.
-Mama, warum sind Menschen so? Und: warum hast Du mir das Buch gegeben, Du wusstest doch, was passiert?
-Weil die beschriebenen Dinge eben wirklich passiert sind, weil es den verfolgten Dichter Kästner eben wirklich gab, weil die Bücherverbrennung stattgefunden hat und die Rekrutierung von Kindern für Spitzelaufgaben, weil plötzlich jüdische Nachbarn und Freunde verschwunden oder geflohen waren, weil der Graben sich durch Familien zog. Und weil man das nie vergessen darf, es immer wieder erzählen muss und in Erinnerung rufen.
-Damit es nicht wieder passiert, oder, Mama?
-Ja, damit so etwas nie wieder passiert.
-Dann war es gut, dass ich es gelesen habe. Auch, wenn mir der Schluß nicht gefallen hat.

Ich finde dieses Kinderbuch wichtig. Ich denke aber auch, Eltern sollten es gelesen haben, bevor sie es ihren Kindern geben. Nicht jedes Kind wird damit zurecht kommen. Empfohlen ist es ab 11 Jahren. Ich würde es vom Charakter des Kindes abhängig machen, denn, und das ist jetzt definitiv ein Spoiler: Friedrich wird den Krieg nicht überleben. Und das hat selbst mich als Erwachsener heftig getroffen. Weil ich nicht davon ausgegangen bin, dass ein Autor soweit geht, seinen Hauptcharakter sterben zu lassen. Nicht in einem Kinderbuch. Nicht in einem Buch, das zunächst versucht, den Charme von „Emil und die Detektive“ einzufangen, das als klassisches Abenteuerbuch beginnt.

Aber nur so ist es realitätsnah. Und kommt hoffentlich in den Köpfen an: rechtes Gedankengut ist nicht tolerierbar und nicht zu entschuldigen. Es ist menschenverachtend und gefährlich und darf gesellschaftlich nie wieder akzeptiert werden.

Harry Lime

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Der dritte Mann
Graham Greene
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
erschienen am 14.03.2016 im Zsolnay Verlag
ISBN 978-3-552-05767-8

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Den Film mit Orson Welles und Joseph Cotten und seine berühmte Titelmelodie kannte einst jeder. In meiner Kindheit liefen diese Filme noch beständig im regulären Fernsehprogramm. Da waren auch Schwarzweiß-Fernseher noch normal.
Das schreibe ich nicht, um auf mein Alter hinzuweisen, sondern weil ich damals eine Liebe für diese teilweise großartig inszenierten Filme entwickelt habe.
Umso irritierter war ich, den „Dritten Mann“ in Buchform zu entdecken. Es gibt also eine Romanvorlage und dann auch noch von Graham Greene?
Nein, gibt es genau genommen nicht. Es gibt ein Drehbuch, einen erfolgreichen Film und eine für das Drehbuch entwickelte Erzählung, die daher nicht in allen Szenen mit dem Film übereinstimmt. Und diese Erzählung ist nun also als Buch veröffentlicht worden.
Der amerikanische Autor Rollo Martins kommt auf Einladung seines Freundes Harry Lime nach Wien. Der Zweite Weltkrieg ist beendet, Wien in fünf Sektoren aufgeteilt, vier werden von je einer Besatzungsmacht, der fünfte wird gemeinsam monatlich wechselnd verwaltet.
Kurz nach der Ankunft erfährt Martins von einem tödlichen Unfall seines Freundes und kommt gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung. Im Zuge seines Aufenthalts stößt er auf Ungereimtheiten den Unfall betreffend und beginnt nachzuforschen.
Es geht um Schiebereien auf dem Schwarzmarkt, um gestrecktes Penicillin, um das Wien der direkten Nachkriegszeit. Dementsprechend düster ist die Stimmung.
Um es gleich zu sagen, an den Film kommt die Erzählung nicht einmal andeutungsweise heran. Aber das war ja auch nie der Plan. Greene ging es um eine genauere Charakterisierung seines Personals, um eine Vorarbeit zum Drehbuch. Dementsprechend nüchtern ist der Text, der dabei aber immer noch besser ist als so mancher ambitionierte Krimi. Die Lektüre lohnt also durchaus, wenn man sich für das Thema interessiert, den Film gerade nicht zur Hand hat oder Graham Greene-Fan ist.
Die Büchergilde Gutenberg hat übrigens eine Ausgabe herausgebracht mit Illustrationen von Annika Siems, die durch ihre schlichte Schönheit besticht und in jede vernünftige Krimisammlung gehört.

Gereon Rath

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Der nasse Fisch
Volker Kutscher
erschienen am 03.01.2020 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-31594-4

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Gefühlt war ich der einzige Mensch in Deutschland, der bisher weder Bücher der Gereon Rath-Reihe gelesen, noch die daraus entstandene Serie Babylon Berlin gesehen hatte. Das hat sich nun tatsächlich geändert. Ein bisschen wundere ich mich im Nachhinein schon, dass ausgerechnet ich diese Mischung aus klassischem hardboiled Krimi und Zwanziger Jahre-Flair so lange nicht wahrgenommen habe. Die sozialen Medien waren voll davon, mein Mann hat von der Serie geschwärmt und … Frau Lehmann war scheinbar nicht anwesend.
Bis ich in der Vorschau des Piper Verlags quasi darüber gestolpert bin. Schallend ausgelacht wurde ich dafür: oh, ein Zwanziger Jahre-Krimi und oh, die Vorlage für Babylon Berlin, davon habe ich Dir schon vor Monaten erzählt, war der Kommentar des besserwissend lächelnden Gatten.
Für eventuell doch noch vorhandene Unwissende, die sich gerade verzweifelt fragen, wovon ich hier eigentlich schreibe, folgt nun eine kleine Zusammenfassung. Alle anderen dürfen diesen Abschnitt getrost überspringen.
Der junge Polizeikommissar Gereon Rath wird wegen eines Vergehens aus dem Kölner Morddezernat nach Berlin zur Sittenpolizei versetzt. Es ist das Jahr 1929, überall machen in Berlin verbotene Clubs auf, die Pornoindustrie boomt, es fließen Ströme von Alkohol und Drogen, der berühmte Tanz auf dem Vulkan ist in vollem Gange. Durch einen Zufall bekommt Rath Informationen zu einer laufenden Mordermittlung. Um sich zu profilieren und gegebenenfalls wieder in eine Mordkommission versetzt zu werden, ermittelt er auf eigene Faust weiter. Dabei verliebt er sich in seine Kollegin Charlotte Richter und stochert in diversen Schlangengruben herum.
Warum ist da eigentlich noch nicht eher einer auf die Idee gekommen, dass das Berlin der Weimarer Republik genau der Ort sein könnte, an dem ein deutscher Philip Marlowe sich heimisch fühlen könnte? Und ist das tatsächlich die erste deutsche Krimireihe, die an die Traditionen Chandler und Hammett anschließt?
Das Setting könnte jedenfalls nicht besser gewählt sein. Der Erste Weltkrieg ist verloren, die Weltwirtschaftskrise droht. Rechte und linke Gruppierungen liefern sich bewaffnete Straßenschlachten, der Nationalsozialismus hat sein hässliches Haupt schon erhoben. Berlin brennt. Die Menschen feiern, um zu vergessen. Kinos, Varietétheater, Nachtclubs schießen aus dem Boden, kontrolliert und geleitet von Verbrecherkartellen. Die Polizei hat es nicht leicht, für Recht und Ordnung zu sorgen, schon allein deshalb nicht, weil hohe Vorgesetzte sich eher von der Politik leiten lassen als von der Gesetzeslage. Es wird geküngelt, vertuscht und gemauschelt, Akten verschwinden, Menschen auch. Sicher ist im Leben nur der Tod.
Gereon Rath muss die Gesetze der Hauptstadt erst lernen. Und stellt dabei fest, dass es gar nicht so leicht ist, in diesem Sumpf ehrenhaft zu handeln. Vor allem dann nicht, wenn einen der eigene Ehrgeiz antreibt, der Wunsch sich zu beweisen. Rath ist kein eindimensionaler Held. Er hat Fehler, Schwächen, er ist unsicher, verrennt sich, raucht wie ein Schlot, säuft ganz gern und ist auch bei Kokain nicht abgeneigt. Und er hat einen Übervater im Nacken, einen mit Verbindungen zum Polizeipräsidenten, der ihn behandelt wie eine Schachfigur. Kurz, Rath ist ein Getriebener. Und passt deshalb so hervorragend in diese atemlose Stadt.
Inzwischen kann ich verstehen, warum die Reihe so beliebt ist. „Der nasse Fisch“ ist im Grunde nahezu perfekt: gut recherchiert, ausgefeilte und ausbaufähige Charaktere in einer hochexplosiven Zeit und ein spannender Fall, geschichtlich plausibel umgesetzt. Mehr kann man eigentlich von einem Krimi kaum verlangen. Gereon Rath hat einen weiteren Fan.

Ich danke dem Piper Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Zerrissen

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Olga
Bernhard Schlink
erschienen am 01.Januar 2018 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07015-6

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Olga. Olga wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, der Vater ist Schauermann, die Mutter Wäscherin. Die Eltern sterben früh am Fleckfieber und Olga zieht zur ungeliebten Großmutter aufs Land, nach Pommern. Das Mädchen ist intelligent, lernt schnell, findet aber nur schwer Anschluss. Bis sie Herbert kennenlernt, den Sohn des Gutsherren. Die Beiden freunden sich an, gegen alle Widerstände, und werden später auch ein Liebespaar. Olga wird Lehrerin, während Herbert sich in bester Junkermanier zum Kolonialherren entwickelt, durch die Welt reist und Ruhm für Deutschland zu erlangen sucht. Irgendwo in der Arktis verlieren sich dann seine Spuren, Olga bleibt allein zurück.
Soweit der erste Teil des Romans.
Der zweite Teil berichtet von der älteren Olga, bis zu ihrem Tod. Erzählt wird er von einem Icherzähler, einem Jungen, bei dessen Familie sie zunächst als Näherin tätig war und dem sie Großmutter und Freundin zugleich wird. Dieser Junge findet dann auch Briefe, die Olga an Herbert ein Leben lang geschrieben hat und die wir im dritten Teil zu lesen bekommen.
Um Deutschlands Großmachtsträume geht es, um Kolonialismus, um zwei Weltkriege, um ein Leben, dessen Glücksfaden scheinbar immer wieder zerreißt, das immer wieder an der Neigung der Deutschen, zu groß zu denken, scheitert. Zumindest denke ich mir, dass das die Quintessenz des Romans sein soll. Denn seltsam zerrissen ist auch dieses Buch in seinen drei nicht wirklich zueinander passenden Teilen. Wobei alle Teile für sich schlinkgemäß hervorragend geschrieben sind. Trotzdem knirscht es in den Fugen. Der erste Teil mit seiner soghaften Sprache wird ausgebremst durch den zweiten Teil, zu abrupt gerät der Wechsel, der dritte Teil dient der Spurensuche und führt die Fäden zusammen. Der Lesefluss ist dahin, auch wenn jeder Teil für sich neue Erkenntnisse, Perspektivenwechsel und Eindrücke bringt. Vielleicht ist das gewollt, vielleicht soll der formale Rahmen diesem nicht geradlinigen Leben mit seinen vielen Brüchen entsprechen? Dann ist das Konzept aufgegangen. Wie Olga muss der Leser sich immer wieder neu zurechtfinden und wird unterbrochen, wenn er sich bequem eingerichtet hat. Olgas Leben breitet sich puzzleförmig vor uns aus, erst wenn alle drei Teile gelesen sind, ist alles sortiert und am rechten Platz. Geschichtlich gesehen, ist das sehr spannend, zumal Olgas Leben einen weiten Zeitraum umspannt, lesetechnisch ist es etwas bemüht und funktioniert nur deshalb, weil Schlink eben Schlink ist und seine geschliffenen Sätze für sich allein sprechen können.

Weitere Besprechungen:

jo. liest https://joliest.com/2019/02/11/rezension-bernhard-schlink-olga/
the lost art of keeping secrets  https://thelostartofkeepingsecrets.wordpress.com/2018/10/12/olga/

Kochen wie im Pèrigord (1)

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Brunos Kochbuch
Martin Walker
Aus dem Englischen von Michael Windgassen
erschienen am 01.Oktober 2014 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-06914-3

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Das Erste, was mir an diesem französischen Kochbuch auffällt, ist das fehlende Apostroph. Wobei es ja nicht wirklich fehlt, sondern großartigerweise einfach nicht da ist. Mit solchen Kleinigkeiten macht man mich glücklich. Zu dem vorhandenen Lesebändchen sag ich jetzt aber nichts…
Fast jeder kennt Martin Walkers Kriminalromane um den Dorfpolizisten Bruno, der essender- und trinkenderweise durch sein Revier streift und das Leben geniesst. Schon häufiger habe ich mich während des Lesens gefragt, wo ich wohl nun dieses oder jenes Rezept her bekomme. Mr. Walker weiß Abhilfe: zufälligerweise ist seine Frau Julia Watson Gourmet-Kolumnistin und was liegt da näher als ein eigenes Bruno-Kochbuch? Eben.
Nun ist dieses Kochbuch aber nicht nur das Anhängsel an eine bekannte Krimireihe, es ist genau genommen viel besser als die Krimis, die ich ehrlicherweise zunehmend unglaubwürdig fand.
Schlägt man das alles andere als schmale Buch auf, erwarten einen zunächst mehrere Seiten großformatiger Landschaftsbilder, ungewöhnlich für ein Kochbuch, aber wunderbar einstimmend auf die Rezepte aus dem Périgord, einem sehr fruchtbaren Landstrich in Frankreich. Die Bebilderung setzt sich fort, passend zu den einzelnen Kapiteln, die mit „Der Angler“, „Der Gemüsebauer“ oder „Der Jäger“ überschrieben sind.
Es folgen klassische Rezepte der schlichten französischen Landküche. „Schlicht“ heißt in diesem Falle nicht „einfach herzustellen“, sondern ohne Überspanntheiten und kulinarisches Tamtam. Meist braucht man nur wenige, aber gute Zutaten und Zeit, viel Zeit. Dies ist definitiv kein Kochbuch für gestresste Großstädter, die Rezepte für schnelle Snacks suchen. Die Soup de Carcasse etwa muss mindestens 90 Minuten köcheln, für Enten-Confit braucht man gar mehrere Tage.
Einige Rezepte sind Geschmackssache, so wird z.B. niemand mich von Lammnierchen überzeugen können oder von Innereien insgesamt, aber speziell die Schmor- und Gemüsegerichte und auch die vielen Desserts und Kuchen sind wirklich ansprechend.
Alles in allem ein ausgesprochen gelungenes Kochbuch, mit einer schönen Mischung aus Rezepten, Bildern und Informationen über das Périgord. Und zusätzlich gibt es für hartgesottene Bruno-Fans zwei Geschichten, in denen Bruno auf seine Art Fälle löst, nicht ohne dabei hervorragend zu tafeln.

Grimmige Geschichten

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Ein wilder Schwan
Michael Cunningham
Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
erschienen am 13. November 2017 im Luchterhand Verlag
ISBN 978-3-630-87491-3

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Im deutschsprachigen Raum ist Michael Cunningham wohl hauptsächlich für seinen Roman „Die Stunden“ bekannt, der um die Schriftstellerin Virginia Woolf und ihr Werk „Mrs Dalloway“ kreist.
Nun scheint sich der Dozent für kreatives Schreiben dem Thema Märchen zugewandt zu haben. Schon sein 2015 erschienener Roman „Die Schneekönigin“ versucht, ein Märchen in die heutige Zeit zu versetzen. „Ein wilder Schwan“ dagegen ist eine ganze Märchensammlung in neuem Kleide. Dabei stellt sich unwillkürlich die Frage, ob Cunningham erst eine Reihe Märchen probeweise bearbeitet hat, um dann eines dieser Märchen komplett auszuarbeiten, ob also „Ein wilder Schwan“ nicht eigentlich vor der „Schneekönigin“ entstanden ist.
Bei den hier versammelten Märchen bleibt bisweilen der Eindruck des Fragmentarischen, nur Angerissenen. Da verzweifelt der zwölfte Prinz an seinem verbliebenen Schwanenarm, zerreißt es Rumpelstilzchen wortwörtlich vor Sehnsucht nach einem Kind, liebt Schneewittchens Mann es auch weiterhin, sie schlafend im Sarg zu betrachten, wird aus dem Bohnenranken-Hans ein jugendlicher Schwerverbrecher. Allen Texten gemeinsam ist ein düsterer Kern, der das „Alles wird gut“-Ende der meisten Märchen negiert. Es ist ja schön, wenn z.B. elf Prinzen vom Zauber befreit ein normales Leben führen können. Aber was wird aus dem zwölften Prinz, wenn er nicht den Charakter hat, aus seinem Flügel ein Markenzeichen zu machen? Wenn er sich kaum noch aus dem Haus traut, immer dicker wird und sich nur noch mit anderen Märchen-Versagern herumtreibt?
Was bleibt Rapunzel, wenn ihr blinder Prinz sich mehr für ihr Haar als sie selbst interessiert? Ihr Haar, das ja abgeschnitten wurde und daher gar nicht mehr mit ihr verbunden ist?
Wie das häufig mit solchen Geschichtensammlungen ist, empfindet man die Einzeltexte mal mehr, mal weniger gelungen. Spürbar ist aber bei allen der Spass am Abgründigen, am Fabulieren, Hinterfragen und Umformen. Als Leser sollte man allerdings die Vorlagen kennen, denn nur so erschließt sich Cunninghams Idee. Ohne den nötigen Background gelesen, wirken die Geschichten recht dürftig, und das wird ihnen definitiv nicht gerecht. Wer sich also nicht sicher in der Materie ist, sollte sich einen Band Grimms Märchen bereit legen, um gegebenenfalls nachblättern zu können.

Ein Tierarztleben

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Der Doktor und das liebe Vieh
James Herriot
Aus dem Englischen von Friedrich A. Kloth
erschienen am 02.Mai 2002 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-33185-5

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James Herriots Romane über sein Leben als Tierarzt in den Yorkshire Dales begleiten mich nun schon fast ein Leben lang. Schon als Kind habe ich sie geliebt und die Fernsehserie dazu. Als ich nun vor geraumer Zeit nach einer Serie gesucht habe, die ich mit meinem Sohn gemeinsam gucken könnte, fielen mir die Geschichten um James, Siegfried und Tristan wieder ein. Und weil mein Sohn genauso begeistert war wie ich in seinem Alter, mussten auch die Bücher ins Haus. Und sie lesen sich mit über vierzig Jahren noch genauso charmant wie mit zehn…
James Herriot ist das Pseudonym des englischen Tierarztes Alf Wight, der seine halbbiographischen Geschichten in der fiktiven Kleinstadt Darrowby in Yorkshire spielen lässt. Von Ende der 30iger bis in die 60iger Jahre reicht die Spanne der Erzählungen über das Landleben, damals gängige Behandlungsmethoden und das Zusammenleben in einem großen alten Haus mit Praxis.
Der junge James Herriot kommt nach dem Studium noch recht unerfahren in die eingesessene Landpraxis von Siegfried Farnon. Auch mit von der Partie ist Siegfrieds jüngerer Bruder Tristan, angehender Tierarzt und Lebemann. Nun muss sich der „junge“ Arzt erstmal das Vertrauen der ortsansässigen Bauern verdienen und erlebt dabei eine Menge amüsanter Anekdoten. Herausragend sind dabei der überfütterte Pekinese Tricky Woo und sein überbesorgtes Frauchen, eine reiche Witwe, oder der schwarze Kater Boris, für den man zur Behandlung Gartenhandschuhe benötigt.
Die James Herriot-Romane sind leichte Lektüre, augenzwinkernd erzählt bilden sie aber dennoch das ländliche Leben der genannten Zeitspanne genau ab. Um die Strapazen zu bestehen und in diesem Beruf zu überleben, brauchte man gewiss eine große Portion Galgenhumor.
„Warmherzig“ ist das Wort, das für mich am besten passt zu diesen Erzählungen, die dazu geführt haben, dass mein Sohn nun auch unbedingt Tierarzt werden möchte. Und jeden Morgen, wenn ich das Gatter zu unserer Weide öffne, überkommt mich das James Herriot-Gefühl, und ich bin unendlich dankbar, dass ich auf dem Land leben darf mit Hund und Katz‘, und der Traum wahr geworden ist, den ich hatte, seit ich mit zehn Jahren die Bücher eines Tierarztes in Yorkshire gelesen habe, den Traum vom Leben auf dem Land, mit wenig Häusern und vielen Feldern drumherum, da, wo sich Feldhase und Reh gute Nacht sagen…

Being Julia

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Theater
W. Somerset Maugham
Aus dem Englischen von Renate Seiller und Ute Haffmans
erschienen am 01. März 1998 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-20163-5

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William Somerset Maugham ( 25.01.1874 – 16.12.1965) war lange Zeit einer der meistgelesenen Schriftsteller Englands. Inzwischen scheint er ein wenig in Vergessenheit zu geraten, was jedoch schade ist, weil er einen leichtfüssigen Schreibstil mit Niveau zu verbinden vermochte.
„Theater“ ist eine Gesellschaftskomödie, wie sie in den 30iger und 40iger Jahren des letzten Jahrhunderts  beliebt waren.
Die alternde Schauspielerin Julia Lambert ist mit dem gefeierten Regisseur Michael verheiratet, führt aber eine Affaire mit dem jugendlichen Buchprüfer Tom. Lord Charles Tamerly und die Kunstmäzenin Dolly de Vries sind ebenfalls in sie verliebt.
Nachdem Tom sie für eine Jüngere verlässt, Charles sie zwar anschwärmen, aber nicht wirklich berühren möchte und Dolly aus Eifersucht ihre Affaire fast an Michael verrät, stellt Julia erschöpft fest, dass sie für derartige Kapriolen wohl zu alt geworden ist.
Im Grunde ist dies der komplette Inhalt, nur ist das Ganze natürlich hübsch ausgeschmückt und mit ein paar wirklich amüsanten Szenen versehen.
Der Titel „Theater“ bezieht sich wohl mehr auf Julias Benehmen als auf ihren Beruf. Sie ist immer Diva, auf der Bühne oder dahinter. Das macht das Zusammenleben mit ihr nicht einfach, andererseits hat sie es aber auch nicht leicht mit dem selbstverliebten Michael.
Man merkt dem Roman an, wie sehr Maugham es genossen haben muss, die frivole Julia zu entwickeln, mit all ihrem Charme und all ihren Schwächen. Und so ganz glaubt man es ihr auch nicht, wenn sie am Schluss des Buches Enthaltsamkeit gelobt. Es wäre auch wirklich zu schade…
Der Roman wurde übrigens zweimal verfilmt, einmal mit Lilli Palmer und Charles Boyer 1962 und einmal mit Annette Benning und Jeremy Irons 2004.
Ich lese Maughams Romane immer wieder gern und empfehle sie daher auch wirklich gern. Guter Stil kommt eben selbst bei Romanen bisweilen mit Frack und Lackschuhen daher…

Aufbruch

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Damals
Siri Hustvedt
Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Oswald
erschienen am 05.März 2019 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-03041-4

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Eine junge Frau kommt aus der Provinz nach New York, um einen Roman zu schreiben. Komplett auf sich allein gestellt, versucht sie den Alltag zu bewältigen. Dabei trifft sie naturgemäß auf allerhand Menschen, auch sehr skurrile. Großstadt eben. Und nicht irgendeine, sondern New York. In den ersten Wochen erkundet die junge Frau die Stadt, fährt Strassenbahn, hält sich lange in Buchhandlungen auf, schreibt Tagebuch. Ein Jahr hat sie sich gegeben, ein Jahr lang hat sie ein Stipendium für vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University, in diesem Jahr muss ihr Debütroman fertiggestellt werden, muss aus ihr eine Schriftstellerin werden.
Abgelenkt wird sie von der Nachbarin im angrenzenden Appartement, deren nächtelanges Gemurmel sie wach hält und immer mehr beschäftigt, bis sie sich selbst mit dem Ohr an der Wand wiederfindet…
Siri Hustvedt ist unbestritten eine der intelligentesten Autorinnen der Gegenwart. Und es ist wohl in vielen Teilen ihre eigene Geschichte, die sie hier verarbeitet. Was diesen Text so besonders macht, ist der kluge Blick auf die Details eines weiblichen Lebens in der Großstadt, die ungeschriebenen Do’s und Don’ts für Frauen im öffentlichen Raum, die selbstverständlichen Erwartungen der Männer an gutaussehende Frauen und die genauso selbstverständliche Übergriffigkeit.
Gleichzeitig erlebt man das Werden einer jungen Schriftstellerin, die Prägung der Großstadt auf das Landei, die spürbare Erweiterung des Horizonts und der sich wandelnde Blick auf das Umfeld.
Hustvedt schreibt aus der Warte der gereiften Frau, blickt auf die 23jährige und ihre Vorstellungen und Träume zurück, nutzt Tagebucheinträge, um sich dieser jungen Frau anzunähern. Während Annie Ernaux beispielsweise mit kühlem Blick versucht das frühere Selbst zu sezieren, spielt Hustvedt mit Fiktion und Realität. Der Leser vermeint, die Geschichte der Autorin wiederzuerkennen, kann sich dessen aber nie sicher sein.
„Damals“ ist mein erster Roman von Siri Hustvedt. Und während die Kenner andere Werke bevorzugen, haben mich Schreibstil und Aufbau hier vollkommen überzeugt. Was die Vorfreude auf weitere Romane nur erhöht.
Eine Bemerkung am Rande, die mich aber umtreibt: Siri Hustvedt wird oft vorgeworfen, sie protze beim Schreiben zu sehr mit ihrem Wissen. Warum genau findet man das z.B. bei Umberto Eco charmant und bei einer Frau übertrieben? Und was genau spricht eigentlich dagegen, Wissen einfließen zu lassen, wenn man es denn schon hat?
Es sind Schriftstellerinnen wie Siri Hustvedt, die einen rein männlichen Literaturkanon zu einer verstaubten Lächerlichkeit machen.

Ich danke dem Rowohlt Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Besprechungen:

letteratura https://letteraturablog.wordpress.com/2019/06/27/memories-of-the-future-siri-hustvedt-damals/
literaturleuchtet https://literaturleuchtet.wordpress.com/2019/04/06/siri-hustvedt-damals-rowohlt-verlag/
LiteraturReich https://literaturreich.de/2019/04/13/siri-hustvedt-damals/

It’s teatime!

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Boutique Baking
Peggy Porschen
2013 erschienen in der Edition Fackelträger
antiquarisch erhältlich

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Dieses Buch ist ein Traum in altrosa, mintgrün und apricot. Und es enthält alles, was man braucht, um mich tagelang in der Küche einzusperren. Rezepte für Cupcakes, Plätzchen und Torten aller Art, die mir teilweise nur beim Lesen leichten Angstschweiß auf die Stirn jagen und dass, bevor ich bei den Verzierungen überhaupt angekommen bin. Nein, Boutique Baking ist definitiv kein Buch für Backanfänger. Möchte man wirklich alles eins zu eins nachbacken, braucht man Kuchenformen in unzähligen Größen, eine Zutatenliste in Leporelloform (wer hat schon Glucosesirup im Haus?), Modelierwerkzeug (manchmal hat es Vorteile in einer Töpferei aufgewachsen zu sein, da hat man mit so etwas schon mal hantiert – ich erinnere mich da zB an eine Krippe mit einer langnasigen Maria), Formen für Verzierungen und Blattgold.
Da meine Küche nicht gerade durch ihre Größe besticht, müsste ich vermutlich ein Außenlager anbauen. Daher nutze ich dieses wunderschöne Backbuch hauptsächlich als Ideengeber, blättere verzückt darin herum, und überlege, wie ich ähnliche Effekte einfacher erreichen kann.
Peggy Porschen, gebürtige Dürenerin, gilt als Londons Starbäckerin. Sie führt zwei Cafés, eine Back-Academy, tritt in Talkshows auf und beliefert die Events der High Society. Bekannt ist sie u.a. durch die liebevolle Verzierung ihrer Backwaren.
Ich dagegen habe mir Kochen und Backen selbst beigebracht, brauche bis heute für die meisten Sachen Rezepte und habe, wenn es zu kompliziert wird, plötzlich zwei linke Hände (oder eigentlich zwei rechte, ich bin Linkshänder).
Meine Glasuren werden niemals so gleichmäßig, meine Marzipanrosen könnten auch Kartoffeln sein (nein, ganz so schlimm ist es doch nicht) und die Palmen einer Pyramidentorte, die mein Sohn sich einst zum Geburtstag wünschte, litten unter sichtbarem Wassermangel.
Wer also die mir fehlenden Fähig – und Räumlichkeiten besitzt, der wird mit diesem Teatime-Schatz wahrscheinlich selig, uns anderen bleibt das freudige Herumblättern oder ein Besuch in London.