Im Nebel der Erinnerung

Der begrabene Riese von Kazuo Ishiguro

Der begrabene Riese

Kazuo Ishiguro

Aus dem Englischen von Barbara Schaden

erschienen am 14. November 2016 im Heyne Verlag

ISBN 978-3-453-42000-7

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Britannien im 5.Jahrhundert. Zur Zeit der Märchen und Sagen, kurz nach Artus und seiner Tafelrunde. Das schon nicht mehr junge Paar Axl und Beatrice fühlt sich in seinem Dorf nicht mehr wohl und macht sich auf die Suche nach seinem Sohn. Dabei treffen sie auf edle Ritter und Drachen, auf verräterische Mönche und gutmütige Fährmänner.
Das ist die grobe Zusammenfassung des Geschehens. Aber damit lässt Ishiguro es selbstverständlich nicht bewenden. Der Meister der Zwischentöne erkundet vielmehr das weite Feld der Erinnerung: ist eine Erinnerung an Vergangenes förderlich für das Zusammenleben? Was bleibt vom Tage, wenn die Erinnerung schwindet? Sind wir friedlicher, wenn wir jeglichen Groll gleich wieder vergessen? Oder sind wir unhaltbar verloren im Meer der Zeit, wenn die Erinnerung uns nicht als Anker dient?
In Beatrices und Axls Welt verschwindet die Erinnerung in einem grauen Nebel. Auf ihrer Reise kommen sie dem Ursprung des Nebels auf die Spur und erleben längst vergessenen Schmerz erneut. Macht sie das glücklicher, vollständiger, ihre Beziehung inniger?
In einer eigentümlichen Mischung aus altertümlicher Sprache in modernem Gewande erzählt Ishiguro unendlich feinfühlig von der weiten Reise des Paares zu den Wurzeln ihrer Beziehung. Der dabei zu spürende Unterbau, die Andeutungen und Querverweise liessen mich allerdings an meinem Unwissen verzweifeln. Es war, als fehle mir der Schlüssel für das wahre Textverständnis, als sähe ich nur die Außenmauern, nicht die Inneneinrichtung. Ich fühlte mich ausgeschlossen, die Figuren blieben leblos, die Worte zwar schön formuliert, aber eben Worte, weil ich sie nicht mit Leben füllen konnte.
Und dann kam mir die Frage nach weitergegebener Erinnerung. Hätte ich mich bei Grimms Märchen oder besser den Nibelungen auch so verloren gefühlt? Erkennen Engländer den Unterbau, weil ihnen die Artussage so vertraut ist wie mir Siegfrieds Lindenblatt?
Wie auch immer, ich habe gekämpft und verloren. Der Nebel lichtete sich nicht. Aber es war trotzdem schön, eine Weile mit Sir Gawain zu reiten und den Drachen zu suchen.

Weitere Besprechungen:

buchrevier https://buchrevier.com/2018/11/02/kazuo-ishiguro-der-begrabene-riese-hoerbuch/
Stimmengewirr II https://mischabach.wordpress.com/2018/07/14/the-buried-giant/
Schriftlichkeit https://schriftlichkeit.com/2017/10/23/kazuo-ishiguro-der-begrabene-riese/

10 Gedanken zu “Im Nebel der Erinnerung

  1. Eines der wenigen Bücher, bei denen ich auf halbem Weg aufgegeben habe, und Deine Besprechung bringt die Gründe dafür wunderbar auf den Punkt. Was Dich vielleicht tröstet: Ich bin zwar keine Engländerin, aber wenn mangelnde Vertrautheit mit der Kultur die Ursache fürs Außen-vor-Bleiben wäre, hätte es daran bei mir eigentlich nicht scheitern dürfen.

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    • Ganz unvertraut bin ich mit der britischen Kultur auch nicht. Aber ich habe die Artus-Sage auch nicht mit der Muttermilch aufgesogen, daher dachte ich, es läge vielleicht daran. Ich hatte ständig das Gefühl, irgendwelche Andeutungen verpasst zu haben. Zumal die von mir ansonsten gelesenen Rezensionen zumeist hymnisch waren…

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      • Ich bin jetzt nicht die ganz große Artus-Kennerin, liebe die Sage aber und habe mich auch von verschiedenen Seiten damit beschäftigt. Aber ich denke, daran liegt es nicht. Die Geschichte hat sich für mich dahingeschleppt, der zündende Funke ist nicht übergesprungen. Es hat mich schlicht und einfach nicht interessiert, wie es weitergeht.
        Aber wenn alles allen gefallen würde, gäbe es ja nur einen Einheitsbrei. 🙂

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      • mE liegen die „gehäuften hymnischen Rezensionen“ zu fast allem was für den gehobenen Massenmark erscheint daran, dass die professionelle Literatur“kritik“ sich die ästhetisch begründete Kritik gründlich ausgetrieben hat… da würde ich eh nix drauf geben. Selbst bei einem echten Meisterwerk ist es doch verdächtig, wenn nicht ein paar etwas zu meckern haben. Aber da herscht Herdentrieb. Wenn überhaupt stürzen sich dann alle auf eine/n…

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      • Nun bin ich aber „nur“ Leser, ohne studierten Unterbau. Daher irritiert es mich dann bisweilen eben doch, wenn alle ein Buch loben und nur ich es schwierig finde.
        Und hier hatte ich ständig beim Lesen das Gefühl, mir fehle eine gehörige Portion „Insiderwissen“…

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      • Nee, glaube ich nicht. Zumal ein Buch, dass ein beinah statisches Zeitgefühl und ein durchwaten eines Nebels des Vergessens rüberbringen möchte wirklich nicht zu sehr von Insiderwissen abhängig sein sollte 😉

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      • Das mag sein. Aber spätestens nach den Andeutungen, Gawain kenne Axl, durchforstete ich mein Gehirn nach einer Gestalt der Artus-Sage als die sich Axl entpuppen könnte. Und war im Nebel des Vergessens oder Nichtwissens. Und so ging es mir eben häufiger…

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