Die Macht

Der Laerm der Zeit von Julian Barnes

Der Lärm der Zeit

Julian Barnes

Aus dem Englischen von Gertraude Krueger

2018 als Taschenbuch erschienen im btb Verlag

ISBN 978-3-442-71652-4

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1937, Russland zu Zeiten Stalins. Während einer Aufführung von Dmitri Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ verlässt Stalin das Theater. Für uns heute ist das kaum noch vorstellbar, aber das ist Grund genug für den Komponisten um sein Leben zu fürchten. Nacht für Nacht steht er nun mit gepacktem Koffer am Aufzug und wartet auf seine Abholung. Er möchte nicht vor den Augen der Familie aus dem Bett gezerrt werden.
Es sind Bilder wie diese, die Barnes‘ Roman unfassbar beklemmend machen. Wie erträgt man das, Nacht für Nacht? Und was macht die Angst um Leben und Familie mit und aus einem Menschen? Ja, auch Angst um die Familie, denn Schostakowitschs Tod könnte dem Diktator noch nicht ausreichend erscheinen, auch das Leben seiner Frau ist in Gefahr und die Zukunft der Kinder. Unfassbar ist das eigentlich, in lebensbedrohender Gefahr zu sein, nur, weil einem anderen ein Musikstil nicht behagt.
Für dieses Mal geht es gut aus, keine Schergen des Diktators erscheinen, langsam kehrt die Familie in den Alltag zurück. Nur was für ein Alltag ist das, ohne Entwarnung, unter ständiger Anspannung, immer unter Beobachtung der „Macht“, die unberechenbar bleibt?
Wir folgen Schostakowitschs Gedankengängen, die durch sein Leben mäandern, immer wieder verweilen, weiterziehen, zurückkehren. Drei Teile hat der Roman, um drei verschiedene Lebensabschnitte geht es: die Zeit als geächteter Komponist, die Zeit nach einem Amerikabesuch, der ihn weite Teile seiner Selbstachtung kostet und die Zeit des Alters mit Rückblicken auf sein Leben. Immer wollte er eigentlich nur komponieren, doch nie durfte er ein selbstbestimmtes Leben führen. Der Druck von oben, die ständige Angst –  hätte er sich wehren sollen? Müssen? Können? Hätte er sein Leben aufs Spiel setzen sollen, um sein Rückgrat zu bewahren, das Wohlergehen seiner Kinder? Hätte er das Risiko eingehen sollen, dass sie ihr Leben in Waisenhäusern verbringen, den Eltern entzogen und gezwungen, die eigene Familie zu verleugnen und zu verachten? Hätte er damit und mit dem eigenen Tod ein Zeichen gesetzt und wenn ja, für wen?
Julian Barnes gelingt es, die unsichtbaren Fäden sichtbar zu machen, mit der in einer Diktatur Menschen gefügig gemacht werden. Er zeigt, dass die Angst vor dem, was kommen könnte, den Menschen schlimmer zusetzen kann, als das tatsächliche Ereignis. Aber was viel wichtiger ist, er findet auch deutliche Worte dafür, dass wir in unserer sicheren Welt uns kein Urteil erlauben sollten darüber, was Menschen in einer solchen Situation antreibt. Schostakowitsch ist lange für seine Kooperation mit dem russischen Regime kritisiert worden. Von seinen Kollegen im sicheren Ausland.
Dieser Roman hat mir streckenweise schlimmere Atemnot bereitet als jeder Thriller, so hervorragend vermittelt er den Freiheitsentzug, das völlige Ausgeliefertsein und die Hoffnungslosigkeit, diesem Käfig zu entkommen. Ein großartiges Buch, beklemmend, realitätsnah und aktuell – denn Diktaturen funktionieren immer und zu allen Zeiten nach den hier beschriebenen Mustern.

Ich danke dem btb Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Besprechungen:

Muromez https://muromez.com/2017/03/12/julian-barnes-der-laerm-der-zeit/
literaturleuchtet https://literaturleuchtet.wordpress.com/2017/03/03/julian-barnes-der-laerm-der-zeit-kiepenheuer-witsch/

 

 

Mitford Manor

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Die Schwestern von Mitford Manor – Unter Verdacht

Jessica Fellowes

Aus dem Englischen von Andrea Brandl

2018 erschienen im Piper Verlag

ISBN 978-3-86612-452-3

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Der Herbst ist da. Und mit ihm pünktlich mein Bedürfnis nach Tee, Kamin und Wolldecke. Da aber Tee, Kamin und Wolldecke ohne Buch recht langweilig sind, steigt natürlich auch mein Bedürfnis nach passender Lektüre. Und was könnte passender sein, als ein Krimi in englischen Adelskreisen, geschrieben von der Nichte des britischsten aller Briten Julian Fellowes, dem „Downton Abbey“-Fellowes?
Dem Klappentext entnehme ich, dass Jessica Fellowes die Begleitbände zur Serie geschrieben hat, und das merkt man ihrem eigenen Roman auch deutlich an. Wer also Sehnsucht hat nach dem Downton Abbey- Feeling, der liegt mit Mitford Manor sicher nicht verkehrt.
Mit den Mitfords hat sich die Autorin eine Familie herausgesucht, die wirklich existiert hat. Die Mitford Girls, die sechs Töchter Lord Mitfords, waren zu ihrer Zeit berühmt-berüchtigt sowohl für ihre Schönheit als auch für ihre Exzentrik. Relativ frei, aber ein wenig weltfremd erzogen, fanden sich unter ihnen dann u.a. eine Schriftstellerin, ein Nazi-Fangirl und eine Kommunistin. Die Tischgespräche müssen bisweilen wirklich schwierig gewesen sein…
In diesem Roman nun geht es um Nancy Mitford, die älteste der Schwestern. Intelligent, liebenswürdig, ein wenig oberflächlich, flatterhaft und bisweilen arg spitzzüngig, so wird die junge Dame in ihren Teenagerzeiten dargestellt. Ihr wird Louisa zur Seite gesellt, die, aus schwierigen Verhältnissen stammend, überglücklich ist über ihre Anstellung als Kindermädchen in der hochgeborenen Familie. Diese beiden nun, fast gleichaltrig und fast befreundet, einer echten Freundschaft stehen die gesellschaftlichen Verhältnisse im Weg, rutschen nahezu zufällig in die Ermittlungen zu einem Mord.
Wer nun einen zielgerichteten Krimi erwartet, liegt falsch. Der Autorin geht es mehr um die Beschreibung der adeligen Welt der Zwanziger Jahre, um erste Lieben und kleine Tändeleien, um das Leben in der Familie Mitford, sowohl als Familienmitglied als auch als Bedienstete. Der Mord dient mehr zur Erhöhung der Spannung zwischen Reisen nach London oder an die Küste, verbotenen Bällen und Tee mit Scones. Tatsächlich haben mich der Mordfall und seine Auflösung in einigen Teilen etwas verwirrt zurückgelassen. Aber im Grunde ist das nicht wichtig, denn Jessica Fellowes Schreibstil ist recht charmant und der Roman liest sich so locker-luftig und ist dabei so herrlich snobbish, dass es wirklich Spass macht ihn zu lesen. Geplant ist wohl eine sechsbändige Reihe, in der es in jedem Band um eine andere Schwester gehen soll. Diese Idee finde ich eigentlich recht gelungen und daher werde ich wohl auch die Folgebände lesen.

Ich danke dem Piper Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Besprechungen dieses Romans:

Nana – Der Bücherblog https://nanafkb.wordpress.com/2018/09/23/rezension-die-schwestern-von-mitford-manor-unter-verdacht-jessica-fellowes/
Streifis Bücherkiste https://streifisbuecherkiste.wordpress.com/2018/09/04/die-schwestern-von-mitford-manor-unter-verdacht-jessica-fellowes/
Esthers Bücher https://esthersbuecher.wordpress.com/2018/09/26/jessica-fellowes-die-schwestern-von-mitford-manor-unter-verdacht/

Déodat und Trémière

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Happy End

Amélie Nothomb

Aus dem Französischen von Brigitte Große

2018 erschienen im Diogenes Verlag

ISBN 978-3-257-07042-2

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Mit Amélie Nothomb verbinde ich intelligente, hinter- und abgründige, schwarzhumorige Bücher, die gerne mit der Lesererwartung spielen. Ich mag das, sehr sogar. Daher habe ich mich schon auf den Tag gefreut, an dem ich endlich „Happy End“ in den Händen halten würde, Nothombs Adaption von Charles Perraults Märchen „Riquet mit der Locke“. Und schon der erste Satz nahm mich gefangen:

Als Énide mit achtundvierzig Jahren ihr erstes Kind erwartete, fieberte sie der Entbindung entgegen wie andere einer Partie Russisch Roulette.

Und recht hatte sie, in der Sache etwas mißtrauisch zu sein, denn sie bringt ein so abgrundtief hässliches Kind zur Welt, dass sie und ihr Mann den Jungen zunächst mehr oder weniger verstecken, um ihn vor Gehässigkeiten und Verletzungen zu schützen. Was Déodat, so nennen sie den Knaben, aber eigentlich auszeichnet, ist eine außergewöhnliche Klugheit und Auffassungsgabe, die ihn dann auch die Mechanismen des Spotts, der über ihn hereinbricht, verstehen läßt. Und so wird aus Déodat ein äußerst erfolgreicher Wissenschaftler, durch seine Redegewandheit und seinen Humor beliebt.
Trémière dagegen ist schon als Baby wunderschön, so außergewöhnlich schön, dass ihre Umgebung das Bedürfnis verspürt, sie zu quälen, um einen Ausgleich zu schaffen. Zudem gilt sie als unbeschreiblich dumm, weil sie selten spricht und lieber beobachtet.
Wie diese beiden, der hässliche Déodat und die schöne Trémière oder auch der wortgewandte Déodat und die schweigsame Trémière, sich entwickeln, aufeinander zu leben und sich schlußendlich dann auch begegnen, das ist das Thema dieses Romans.
Stimmung und Schreibstil liessen in meinem Hinterkopf immer wieder ein Glocke klingen, der Tonfall kam mir bekannt vor. Und irgendwann kam ich auf des Rätsels Lösung: an Süskinds „Das Parfum“ erinnerte mich der Text, nicht so sehr inhaltlich als mehr in der Wortwahl, in der Satzmelodie. Eine Lektüre dieses Buches lohnt tatsächlich schon allein wegen dieses grandiosen Stils.
Aber. Ja, es kommt leider ein Aber. Der Text ist eine Neuinterpretation eines Märchens von Perrault, erschienen 1697. Dort wird der hässliche Riquet mit der Gabe geboren, jemandem von seiner Klugheit einen Teil zu schenken, während die schöne, aber dumme Prinzessin einen Teil ihrer Schönheit abgeben kann, Happy End inbegriffen.
Wenn ein Schriftsteller sich die Mühe macht, einen solchen Text in die heutige Zeit zu versetzen, dann steht dahinter zumeist ein Anliegen, etwas, das dem Autor am Herzen liegt. Denn warum sich sonst die Mühe machen, wenn man nicht versuchen würde, dem heutigen Leser damit einen Fingerzeig zu geben? Aber genau den verstehe ich scheinbar nicht. Achte weniger auf das Aussehen, auf die inneren Werte kommt es an? Oder teile Deine Talente mit Deinen Mitmenschen und Dir wird mehr gegeben als genommen? Oder wer bestimmt überhaupt, was Werte sind und wie sie auszusehen haben? Eine im Grunde so simple Botschaft kann ich mir bei der tiefgründigen Nothomb eigentlich nicht vorstellen. Eine andere erkenne ich jedoch leider nicht. Und so blieb mir am Schluss des Romans, trotz aller sprachlichen Schönheit, ein leichter Anflug von Beliebigkeit gemischt mit dem Verdacht, ich sei doch dümmer als gedacht…

Ich danke dem Diogenes Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Wurzeln

Heimat von Nora Krug

Heimat – Ein deutsches Familienalbum

Nora Krug

erschienen 2018 im Penguin Verlag

ISBN 978-3-328-60005-3

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Nora Krug hat sich mit ihrem Buch einem schwierigen Thema angenähert. Was ist Heimat? Und inwiefern nimmt unsere Herkunft Einfluss auf unser Verhalten? Und speziell für Deutsche: warum fühlen wir uns schuldig für das Grauen, dass unsere Vorfahren verbreitet haben? Und daraus abgeleitet: haben eigentlich die eigenen Vorfahren überhaupt daran teilgehabt? Und wenn ja, wie?
In den meisten deutschen Familien herrscht Schweigen über die Vergangenheit. Inzwischen ist die „Täter“-Generation in großen Teilen verstorben, direkte Nachfragen zu dem Verhalten im Dritten Reich sind so nicht möglich. Von den Kindern, also unseren Eltern, hört man auch häufig nur wenig: „der Opa war nicht so“ oder „die Oma hat es schwer gehabt“. Aber was ist denn nun wirklich passiert?
Nora Krug beginnt nachzuforschen. Sie befragt Familienmitglieder, durchforstet alte Akten, besucht Wohnorte, Archive, Bibliotheken. Und das, was sie herausfindet, bildet die Grundlage für ihr Buch. Dazu kommen Flohmarktfunde, Bilder aus der Zeit, angeordnet unter verschiedensten Gesichtspunkten, Soldaten mit Tieren z.B. oder KZ-Wärterinnen, Zeichnungen, Exkurse zu typisch deutschen Dingen wie Hansaplast oder Brot…
„Heimat“ ist ein ganz besonderes Buch. Gestaltet wie eine Graphic Novel, kommt es leichtfüssig daher, aber es ist kein Leichtgewicht. Es stellt unseren Umgang mit Geschichte in Frage, die Tatsache, dass wir zwar alle Daten und Fakten über die Gesamtvorgänge kennen, aber selten sagen können, welche Geschäfte in unserem Heimatort eigentlich in jüdischem Besitz waren, ob unsere Großväter in der Partei waren, wie der Krieg mit unserem Wohnort umgegangen ist.
„Ach, lass die Toten doch ruhen“, war die Antwort meiner Mutter auf Nachfragen. Gleichzeitig hat sie aber ein ungutes Gefühl, wenn z.B. Deutsche bei der Fußballweltmeisterschaft die Flagge im Gesicht aufgemalt herumtragen, wie alle anderen teilnehmenden Völker auch. Ruhen die Toten dann wirklich?
Und hilft es uns wirklich weiter, lieber unsere gesamte Vergangenheit pauschal zu verdammen, von den Germanen über das Nibelungenlied bis zur Pickelhaube, weil Teile davon von den Nationalsozialisten für ihre Zwecke mißbraucht wurden, statt endlich aufzuarbeiten, was eben nicht ein ganzes Volk dazu bewogen hat mitzulaufen, mitzumachen, sondern viele einzelne, individuelle Personen unterschiedlichster Herkunft, meinen Großvater eingeschlossen?
Nora Krug liefert eine ganze Reihe kluger Denkanstöße ohne zu Dozieren. Sie läßt uns schlicht teilhaben an ihrer persönlichen Suche nach Erkenntnis. Und das macht sie so wunderbar, dass ich ihr ganz viele Leser wünsche, ganz besonders unter den heutigen Schülern. Denn wir sollten unsere Vergangenheit nicht denen überlassen, die sie wieder zu mißbrauchen gedenken.

Familie

9783462050868

Sechs Koffer

Maxim Biller

im August 2018 erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch

ISBN 978-3-462-05086-8

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Ein schmaler Band. Da muss man sorgsam auswählen, was hinein soll, was zwingend notwendig ist, was zurück bleibt und dann muss genauso sorgsam formuliert werden, damit auch alles seinen Platz findet. Der Inhalt von sechs Koffern, von sechs Leben, von mindestens sechs möglichen Romanen, zusammengekürzt auf diesen schmalen Band. Da hat jemand das Koffer packen gelernt. Ein Familienerbe?
Der Großvater wurde vom KGB verhaftet und hingerichtet. Jemand muss ihn verraten haben. Jemand aus der Familie? Aber wer? Und warum? Gegenseitige Schuldzuweisungen, jahrzehntelanges Schweigen, keiner will die Enkel einweihen in die Familiengeheimnisse, keiner will Fragen beantworten. Das vergrößert natürlich die Neugier eher als sie einzudämmen. Der junge Maxim Biller beginnt nachzuforschen…
Was hier Wahrheit ist und was Dichtung, bleibt in einer Grauzone. Die nachprüfbaren Fakten stimmen, Namen, Wohnorte, Berufe. Aber darum geht es im Grunde auch gar nicht.
Für uns Deutsche heutzutage ist es vorbei. Wir weisen jede Zusammengehörigkeit mit den Dritten Reich zurück und können dadurch recht unbeschwert leben. Wenn wir auf dem richtigen Wege sind, stehen wir auf gegen rechts, aber seltenst befinden wir uns dabei in unmittelbarer Gefahr. Für Juden ist es nicht vorbei. War es niemals. Denn der Antisemitismus ist unausrottbar, kommt und geht in Wellen. In der Sowjetunion und den angrenzenden Partnerstaaten war er neben den unzähligen anderen Einschränkungen immer eine Bedrohung. Ist es daher ein Wunder, dass die Kinder des Großvaters in den Westen fliehen möchten? In ein ruhigeres Leben, ohne Pulverfässer, die jederzeit hoch gehen könnten? Die Frage ist nun die, welchen Preis sie dafür bereit sind zu zahlen…
Mehr zum Inhalt möchte ich gar nicht sagen. Den erschließt man sich besser selbst. Aber ein paar Überlegungen zu Kritikpunkten habe ich noch:
Eine durch und durch unsympathische Familie wäre das, stellt eine Bekannte fest. Nun ist an persönlichen Meinungen ja selten zu rütteln, aber sind die Billers unsympathisch? Sind sie nicht eher getrieben? Auf der Suche nach einem lebenswerten Leben, nach Sicherheit? Und können wir das überhaupt nachvollziehen, was es mit Menschen macht, sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende niemals völlig sicher fühlen zu dürfen?
Und ein anderer Gedanke: ist uns eventuell Tevje, der Milchmann lieber? Ein melancholischer, sanfter Mensch, immer freundlich, immer fröhlich, der sein Schicksal ergeben trägt? Haben wir es nicht so gern, wenn jemand kritisch hinterfragt, uns aus der bequemen Zone heraus drängt? Und muss ein intelligenter hinterfragender Geist nicht bisweilen vor unserer Selbstgefälligkeit und Behäbigkeit ausfällig werden? Und ist es wirklich so viel schlimmer, wenn jemand offen ausspricht, was die anderen lieber netter formuliert hinten herum anbringen?
Und letzte Frage: muss ein Schriftsteller sympathisch sein, um gute Bücher zu schreiben? Muss man eventuelle  öffentliche Tiraden kennen, um die Bücher beurteilen zu können?
Aber um zu einem Schluss zu kommen: ich finde „Sechs Koffer“ brilliant und zu recht auf der Shortlist.
Und wer sich durch obige Überlegungen auf den Schlips getreten fühlt, wird schon wissen, warum.

Volt, Hertz, Ampère

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Licht

Anthony McCarten

als Taschenbuch erschienen im August 2018 im Diogenes Verlag

ISBN 978-3-257-24433-5

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Ich habe ein Faible für Geschichtsromane. Damit meine ich weniger wandernde Hebammen oder Animierdamen im Mittelalter, sondern vielmehr Romane, die vergangene Menschen, Orte, Daten, Fakten lebendig machen und auch nachvollziehbar aus heutiger Sicht. Mit „Licht“ hat der bekannte Autor Anthony McCarten einen solchen Roman geschrieben. Gut, man merkt durchaus, dass diesem Roman ein Schema zugrunde liegt, dass der Autor eine Verfilmung wahrscheinlich schon vor Augen hatte und dass er weniger ein Sprachkünstler denn ein Unterhaltungsprofi ist. Aber ich lasse mich bisweilen gerne unterhalten und Bildungslücken schließe ich auf diesem Niveau auch gerne.
Die Zusammenarbeit von Thomas Alva Edison, dem Erfinder, mit John Pierpont Morgan, dem Bankier, ist das Thema der Wahl. Und für Edison könnte diese Zeit durchaus unter einem abgewandelten Goethe-Zitat stehen: Ein Teil von jener Kraft,/ die stets das Gute will und stets das Böse schafft.
Mit der Erfindung der Glühbirne wird Edison interessant für Morgan. Die Vorstellung, der Welt das elektrische Licht zu schenken, ganze Städte mit den nötigen Installationen zu versehen, entspricht Morgans ausgeprägtem Sinn für Macht und Finanzen. Er stattet Edison mit einem Labor und unbegrenztem Geld für Forschungen aus, bietet gar sein Haus als Versuchsobjekt an. Zunächst verläuft das Projekt erfolgreich. Doch während Edison auf die Nutzung von Gleichstrom setzt, arbeitet der ursprünglich mit ihm befreundete Erfinder Nikola Tesla an einem ähnlichen Projekt mit einem Konkurrenten, basierend auf Wechselstrom. Edison verrennt sich so sehr in die Idee, Wechselstrom sei hochgefährlich, dass er um diesen Beweis zu erbringen, mithilft, den elektrischen Stuhl zu konstruieren. Sein Ziel, Gutes für die Menschheit zu erschaffen, verliert er dabei völlig aus den Augen, seine eigene Menschlichkeit ebenso.
Und an dieser Stelle muss ich es nun gestehen: ich habe schon immer arge Schwierigkeiten beim Lesen von grausamen und brutalen Begebenheiten gehabt. Besonders, wenn es um hilflose Wesen geht, ob Kind oder Tier, die sinnlosen Quälereien ausgesetzt werden. Die hier beschriebenen Tierversuche haben mich an die Grenzen dessen gebracht, was ich in einem Roman ertragen möchte. Sicher, sie machen deutlich, wie sehr Edison seinen Weg verloren hat, wie weit er sich von dem entfernt hat, was für ihn eigentlich wichtig ist. Und sie zeigen auch, welche Werte bisweilen auf dem Altar der wissenschaftlichen Forschung geopfert werden, nämlich Menschlichkeit, Mitgefühl und Aufrichtigkeit. Trotzdem habe ich mich zwingen müssen, weiterzulesen und die Lesefreude ist mir dabei gänzlich abhanden gekommen.
Für weniger zartbesaitete Leute ist „Licht“ aber sicherlich ein interessanter Roman über das Leben und Wirken Thomas Alva Edisons, über den Einfluss der Hochfinanz auf Forschung und Wissenschaft und darüber, wie schnell man seine Seele an den Teufel verkaufen kann. Keine hohe Literatur, aber gut gemachte Unterhaltung.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Besprechungen dieses Romans:

Buchweiser https://buchweiser.com/2017/08/05/rezension-licht-von-anthony-mccarten/
JHs Welt der Bücher https://jhweltderbucher.wordpress.com/2017/08/18/anthony-mccarten-licht/

Glaube und Macht

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Gott der Barbaren

Stephan Thome

erschienen 2018 im Suhrkamp Verlag

ISBN 978-3-518-42825-2

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Ich muss gestehen, auf der Landkarte meiner Bildung ist China weitestgehend Terra incognita. Ich weiß sträflich wenig über Geschichte und Kultur dieses an Geschichte und Kultur ja so reichen Landes. Umso dankbarer bin ich für die Einblicke, die Stephan Thomes großartiger Roman dem Leser gewährt. „Gott der Barbaren“ spielt Mitte des 19.Jahrhunderts. Die Qing-Dynastie wankt;  Europäer, vor allem Engländer haben sich in den Hafenstädten angesiedelt; der Opiumhandel blüht; Missionare strömen aus auf Seelenfang. Kulturen prallen aufeinander.
Philipp Johann Neukamp, ein junger Deutscher, empfänglich für Visionen von einem gerechteren Leben, die ihn auf die Barrikaden der März-Revolution in Deutschland geführt haben, gerät auf der Flucht an einen Scharlatan, der ihn mehr schlecht als recht ausgebildet auf einen Missionarsposten nach China schickt. Angekommen, muss er relativ schnell erkennen, dass er weitestgehend auf sich selbst gestellt ist. Zunächst kommt er bei einer anderen Missionsgesellschaft unter und dort in Kontakt mit einem jungen Chinesen, der von einem besseren China und dem Sturz des Kaisers träumt.
Dieser Hong Jin ist Cousin eines Mannes, der meint, der zweite Sohn Gottes und ein Bruder Jesu zu sein. In Visionen sieht dieser sich als Gründer eines neuen Reiches. Bei den ärmlich lebenden Hakka-Nomaden findet er schnell Anhänger, die Bewegung wächst und weitet sich zu einem Aufstand aus. In relativ kurzer Zeit erobern die Rebellen große Gebiete. Hong Jin wird einer der strategischen Köpfe der Rebellion.
Um den Aufstand niederzuschlagen, beruft der Kaiser Zeng Guofan, einen seiner besten Feldherren, der mit der sogenannten Hunan- Armee gegen die Rebellen vorgeht. Gleichzeitig wird der mächtige Oberbefehlshaber aber auch zu einer theoretischen Gefahr für den Thron, der durch die Opiumkriege mit den Briten arg ins Wanken geraten ist. Denn die Briten wollen, gemäß ihrer üblichen Kolonialpolitik, eine Öffnung des Landes für den Handel erzwingen und setzen dafür auch ihre überlegene Militärgewalt ein. James Bruce, Earl of Elgin and Kincardine, wird dafür als Sonderbotschafter einberufen.
Philipp Johann Neukamp, Hong Jin, Zeng Guofan, Lord Elgin. Um diese vier Menschen und ihre unterschiedlichen Sichtweisen dreht sich der Roman. Neukamp und Hong Jin sind die junge Generation, die Verbesserungen einführen möchte, empfänglich für Ideologien, die genau das versprechen, und die ihren Weg verlieren in einem Strudel scheinbar notwendiger Grausamkeiten, die aber, so ihr Glaube, zu einem guten Ziel führen. Selten wurde der Weg in blinden Fanatismus besser beschrieben. Das Gute, das mit dem Schwert erkämpft werden muss, geleitet von einem „Propheten“ mit einem direkten Draht zu Gott – Thome zeigt, wie aus eigentlich friedlichen Menschen „Gotteskämpfer“ werden, bar jeder Gnade und Menschlichkeit. Und wie ein Aufstand außer Kontrolle gerät durch innere Machtkämpfe und Realitätsverlust.
Im Gegensatz dazu stehen zwei altgediente Befehlshaber: Elgin, der von der englischen Krone von Brandherd zu Brandherd um die Welt geschickt wird und doch eigentlich lieber bei seiner Familie weilen möchte und Zeng Guofan, dessen ganzes Leben aus Kriegsführung besteht und der doch eigentlich lieber Gelehrter geblieben wäre. Im Grunde sind sich die beiden müden, aber disziplinierten Kämpen sehr ähnlich, auch wenn sie kulturell Welten trennen. Beide müssen in ihrer herausragenden Stellung einsame Entscheidungen treffen und vor sich selbst vertreten, beide sehnen sich nach Frieden und Ruhe.
Thome gelingt es hervorragend, die doch recht verworrenen politischen Fäden zu entwirren und die verschiedenen Positionen und Beweggründe darzulegen. Die Handlungen der einzelnen Beteiligten werden so nachvollziehbar, die Abläufe verständlich. Und gleichwohl bleibt das Ganze trotz der immensen Informationen über Geschichte, Kultur, Lebensweisen im damaligen China ein überaus spannender Abenteuerroman. Die Einbettung der Handlung in die historisch verbürgten Fakten gelingt mühelos, der Lesefluss ebenso.
Selten hat mich ein historischer Roman so begeistert. Die ruhige Erzählweise, die vielen Einblicke in das Denken der Protagonisten und die im Gegensatz dazu sich überschlagenden Ereignisse und handlungsbedürftigen Brennpunkte ergeben eine perfekte Komposition. Die Nominierung für die Shortlist des Deutschen Buchpreises ist daher mehr als verdient. Und wäre meine Meinung ausschlaggebend, würde Thome diesen Preis für seinen herausragenden Roman auch bekommen.

Ich danke dem Suhrkamp Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Besprechungen dieses Romans:

letteratura https://letteraturablog.wordpress.com/2018/09/09/wir-wissen-nie-in-wessen-dienst-wir-wirklich-stehen-stephan-thome-gott-der-barbaren/
exlibris https://exlibris-jmalula.com/2018/09/14/gott-der-barbaren/

1944

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Unter der Drachenwand

Arno Geiger

erschienen 2018 im Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-25812-9

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1944. Der junge Soldat Veit Kolbe wird zur Genesung nach Mondsee geschickt, einem Dorf unterhalb der Drachenwand in Österreich. Dort wird er bei der unfreundlichen Trude Dohm einquartiert. Ebenfalls bei Frau Dohm im Quartier ist Margarete mit ihrem Baby, deren Mann an der Front ist. Aus gelegentlichen Begegnungen werden gemeinsame Abendessen und schlußendlich Liebe. Aber sobald Veits Verletzungen verheilt sind, wird ein neuer Einberufungsbefehl kommen.
Was nach einer romantischen Liebesgeschichte in Kriegszeiten klingt, ist auch genau das, eine romantische Liebesgeschichte in Kriegszeiten. Aber eben nicht nur. Arno Geiger gelingt es, das Große im Kleinen abzubilden, Mondsee als ein Ort unter vielen im sogenannten Deutschen Reich. Da ist der erschöpfte, kriegstraumatisierte Soldat, die Kriegsbraut, die ihren Mann kaum kennt, die Lehrerin, die für Zucht und Ordnung sorgen soll und ihre landverschickten Schützlinge, die kaum zu bändigen sind, der Brasilianer, Bruder der Quartiersfrau Dohm, der für seine offenen Worte schwer bezahlen muss und der Postenkommandant in Mondsee, der sich an jegliche Regeln hält, um nur ja nicht aufzufallen. Sie alle sind Stellvertreter einer kriegsgeschädigten Gesellschaft.
Aber obwohl man die Idee zu diesem Roman, die Konstruktion dahinter zu erkennen vermeint, ist es eben die große Kunst Geigers lebende, atmende Menschen erschaffen zu haben. Menschen, deren Beweggründe man nachvollziehen kann, deren Schicksal einem nahegeht, die eben im Guten wie im Schlechten menschlich handeln. Es gibt keine Bösewichter und Helden, nein, Geigers Gestalten versuchen auf ihre Weise und ihrem Charakter entsprechend mit der Ausnahmesituation zurecht zu kommen. Und das gelingt naturgemäß mal mehr, mal weniger gut.
Was diesen Roman mit seinen vielen Einzelschicksalen zusammenhält, ist die Sprache. Nüchtern, geradlinig und doch feinfühlig erzählt Geiger seine Geschichte. Und der Erzählfluss scheint ihm so wichtig zu sein, dass er dem Lesenden Atempausen in Form von Schrägstrichen vorgibt, wie man das sonst eher aus Theatertexten kennt. Und das ist auch das Besondere, das Großartige an diesem Roman: ein Autor, der seinen Text bis ins Kleinste durchdacht und geplant hat, der jedes Wort und jedes Satzzeichen bewußt gesetzt hat und dem es trotz oder vielleicht auch genau darum gelingt, seiner Geschichte Leben einzuhauchen und, genau dosiert, Gefühl. Hier ist ein Meister seines Fachs am Werk, selten erlebt man eine solche handwerkliche Präzision. Und so war die Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises wohl zu erwarten, gefolgt von der Nominierung auch für den Österreichischen Buchpreis.
Und wer sich bisher nicht herangetraut hat an „gehobene“ Literatur, weil er sie für nicht oder nur schwer lesbar hielt, der möge hier einen Versuch wagen. Denn neben all dem oben Gesagten, entwickelt der Roman beim Lesen eine solche Sogwirkung, dass ich ihn mehr oder weniger in einem Zuge gelesen habe, unwillig über jede notwendige Pause. Ich wiederhole es also wirklich gern: ein ganz und gar großartiger Roman!

 

Weitere Besprechungen:

leseninvollenzügen https://leseninvollenzuegen.wordpress.com/2018/05/29/review-unter-der-drachenwand/
literaturgeflüster https://literaturgefluester.wordpress.com/2018/08/25/unter-der-drachenwand/
literaturleuchtet https://literaturleuchtet.wordpress.com/2018/02/14/arno-geiger-unter-der-drachenwand-hanser-verlag/

Schweigen

Und die Braut schloss die Tuer von Ronit Matalon

Und die Braut schloss die Tür

Ronit Matalon

Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer

erschienen 2018 im Luchterhand Literaturverlag

ISBN 978-3-630-87564-4

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An ihrem Hochzeitstag schließt sich die Braut Margi in ihrem Zimmer ein und verweigert damit die Schließung der Ehe. Draußen vor der Tür versuchen ihre Mutter Nadja und ihr Verlobter Matti mit Margi Kontakt aufzunehmen. Doch die Braut schweigt. Aus dieser Situation macht Ronit Matalon eine bittersüße Komödie, seziert auf wenig Seiten und trotzdem präzise eine Familie, stellvertretend für die Gesellschaft. Die Braut schweigt, und jeder geht anders damit um, muss sich allein mit dieser Situation auseinandersetzen, nach Gründen suchen und nach Lösungen. Letztere fallen so unterschiedlich aus wie die Charaktere, die sie ersinnen.
Während Matti zwischen Verzweiflung und Aggression schwankt und droht, die Tür gewaltsam zu öffnen, organisiert seine Mutter eine Psychologin, die Margi quasi durch die Tür therapieren soll. Die Brautmutter ist mit der Situation gänzlich überfordert und läßt sich von einer Woge der Verzweiflung, die ihre Wurzeln in einem vergangenen Verlust hat, überrollen. Und dazu kommen der Gesichtsverlust den geladenen Gästen gegenüber und natürlich das in die Hochzeitsfeierlichkeiten investierte Geld.
Das alles beschreibt Matalon so böse wie witzig. Und lässt trotzdem auch leise Momente zu, die den Leser trotz aberwitzigster Situationen mit den Figuren fühlen lassen, etwa, wenn Matti sich vor der Tür einrollt, um Margi näher zu sein.
„Und die Braut schloss die Tür“ ist ein intelligent komponierter Kurzroman, den man sich in seinem Bilderreichtum hervorragend auf der Bühne oder als Film umgesetzt vorstellen kann. Einfühlsamkeit, schwarzer Humor und Gesellschaftskritik halten sich hier wunderbar die Waage.
Leider ist dieser Roman der letzte Ronit Matalons, die Ende letzten Jahres verstarb. Ich würde mich freuen,  wenn ihre vorhergehenden Werke, die bisher nur teilweise übersetzt wurden, auch dem deutschen Leser zugänglich gemacht würden. Denn eines ist sicher, Ronit Matalon war eine hochinteressante Stimme des modernen Israels und nicht umsonst dort sehr bekannt.

Ich danke dem Luchterhand Literaturverlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Besprechungen:

erdhaftig schmökert https://erdhaftigschmoekert.wordpress.com/2018/08/26/und-die-braut-schloss-die-tur/
missmesmerized  https://missmesmerized.wordpress.com/2018/08/20/ronit-matalon-und-die-braut-schloss-die-tuer/

Ein Juwel

Landpartie von Eduard Keyserling

Landpartie – Gesammelte Erzählungen

Eduard von Keyserling

erschienen 2018 im Manesse Verlag

ISBN 978-3-7175-2476-2

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Es gibt Schriftsteller, deren Werk völlig unverdient aus der Aufmerksamkeit gerät, in irgendeiner Versenkung verschwindet und dort sanft einstaubt. Und manchmal, zum Glück!, wird so ein Schriftsteller mit seinem Werk wieder entdeckt, entstaubt und den Lesern neu vorgestellt. Eduard von Keyserling ist so ein Schriftsteller, einer der eigentlich in die Riege der großen deutschsprachigen Erzähler der Jahrhundertwende gehören sollte, in einem Atemzug genannt mit beispielsweise Fontane oder Storm oder den Manns, Heinrich und Thomas.
Der Manesse Verlag hat nun den 100. Todestag von Keyserlings am 28.September 2018 zum Anlass genommen, einen Band mit gesammelten Erzählungen herauszubringen. Dort sind nun alle auffindbaren Erzählungen und Novellen versammelt, mit Kommentar, Zeittafel, Bildteil und einem Nachwort von Florian Illies. Es wurde scheinbar sehr sorgsam recherchiert, Übersetzungen werden genannt und sogar Verfilmungen. Das ist zum einen informativ und zum anderen schön, wenn man sich noch nicht so wirklich trennen will von diesem Buch und seiner besonderen Stimmung.
Eduard von Keyserling wurde 1855 in ein altes kurländisches Geschlecht geboren und bleibt in seinen Erzählungen in weiten Teilen der Adelswelt verhaftet. Häufig geht es um den jugendlichen Überschwang gegenüber dem gegebenem Regelwerk, um unstatthafte Liebe. Aber selten wurden diese Motive so elegant und melancholisch behandelt, so bar jeden Schmalzes. Und so modern, denn von Keyserling scheut sich nicht gesellschaftliche Problematiken zu bearbeiten, so zum Beispiel die Stellung der Frau, die häufig genug wenig eigenen Willen zugestanden bekommt und im goldenen Käfig lebt.
Obwohl die Erzählungen, wie der Kommentar beweist, zeitlich und örtlich eingeordnet werden können, wirken sie wie aus der Zeit gefallen, erzählen von einer verlorenen Welt. Wobei der Autor durchaus andeutet, warum diese Welt untergeht, untergehen muss. Es ist spannend zu verfolgen, wie die Erzählungen über die Jahre sich verändern, wie es erst um Angehörige des Landadels geht, mit bestimmten Rechten, mit Gütern und Traditionen und wie nach und nach diese Rechte und Güter und Traditionen verloren gehen, so dass der Band mit einem herrischen Bankdirektor endet, der zwar noch ein „von“ im Namen trägt, aber von adeligem Verhalten keine Spur mehr aufzeigt.
Was all diesen Erzählungen gemeinsam ist, das sind die Stimmungen, die von Keyserling mit Worten schaffen konnte. Seine Beschreibungen der Natur, der Gärten, der Jahreszeiten schaffen nicht nur den Rahmen für die Handlung, sondern geben die passende Färbung. Häufig befinden wir uns im Übergang vom Sommer zum Herbst, wenn die Blumen am prächtigsten blühen, aber der nahende Verfall sich schon ankündigt oder im Übergang zwischen Tag und Abend, wenn die Stimmung stiller wird und die Natur durchatmet. Die Abstufungen sind unglaublich fein, manchmal ist es nur die Beschreibung eines Blumenstraußes in den Händen der Heldin, die dem aufmerksamen Leser den Ausgang schon andeutet.
Es gibt Autoren, wo man nach jeder Erzählung eine lange Pause braucht. Hier habe ich geradezu rauschartig gelesen, weshalb im Nachhinein der Band auf mich wirkt wie ein langer Sommer, mit Bienengesumm und Rosenduft, der unwiderruflich beendet wird durch einen Krieg, der weitere Sommer dieser Art für immer unterbindet.
Es bleibt zu hoffen, dass von Keyserling nun ins Gedächtnis der Leser zurückkehrt, denn seine bildreiche und doch schnörkellose Sprache ist in ihrer Feinsinnigkeit schlicht wunderschön.

Ich danke dem Manesse Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.