Little Summerford

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Charley Moon

Reginald Arkell

Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich

erschienen 2018 im Unionsverlag

ISBN 978-3-293-00538-9

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Eine Bekannte bemerkte unlängst, derzeit gäbe es recht viele Neuerscheinungen über Krieg, Tod und Verderben. Und ja, ich teile ihren Eindruck, es erscheinen momentan viele Bücher, die sich mit den Weltkriegen beschäftigen, mit den körperlichen und seelischen Schäden, die auch Generationen danach noch beeinflussen. Mit Schuld, Trauer und Verarbeitung. Und das ist auch sehr gut so, betrachtet man die gesellschaftlichen Entwicklungen in jüngster Zeit.
Trotzdem möchte man hin und wieder in eine heile Welt flüchten, eine Welt, wo das Ende immer gut ist und die Liebe immer ewig. In meinem Falle darf diese Flucht allerdings nicht zuviel rosaroten Kitsch aufweisen und schwülstige Liebesschwüre schon gar nicht. Aber dem Klischee vom britischen Landleben entsprechen, darf ein Roman bei mir jederzeit.
Und da wären wir dann bei „Charley Moon“ angekommen. Die wunderschöne Leinenausgabe des Unionsverlags stach mir schon drei Tische weiter in der Buchhandlung ins Auge und als ich näherkommend den Autor las, konnte ich ein verzücktes „ooooh“ nicht unterdrücken. Reginald Arkell schrieb nämlich schon eines meiner Lieblingsbücher über die britische Gartenwelt, „Pinnegars Garten“. Und der Klappentext lies mich endgültig jauchzend zur Kasse hüpfen:
Sie mieten ein Boot und rudern die Themse hinauf, bis Sie nicht mehr weiterkommen. Dann steigen Sie aus und ziehen das Boot, bis Sie es nicht mehr weiterziehen können. Sie lassen das Boot in den Binsen zurück und gehen über die Wiesen, bis Sie zu einer Mühle, sechs Häusern und einem Kramladen kommen. Das ist Little Summerford.
Und dort beginnt die Geschichte von Charley Moon, dem Müllerssohn, der als Komiker Englands Bühnen erobert und erst alles verlieren muss, um zu begreifen, was ihm wirklich wichtig ist. Und diese Geschichte, die zugegeben gar nicht so besonders oder herausragend ist, erzählt Arkell mit so viel Wärme und britischem Witz, dass ich das Buch, einmal begonnen, nicht mehr zur Seite legen mochte. Und obwohl ich deshalb auf einen großen Teil meines Nachtschlafs verzichtet habe, hielt der Zauber noch den nächsten Tag über an, wo mich die Welt mit rabenschwarzen Schatten unter den Augen und einem seligen Grinsen zu Gesicht bekam. Wer also ein bißchen anglophil veranlagt ist, sich nach ein wenig heiler Welt und einer heißen Tasse Tee sehnt, der möge sich aufmachen nach Little Summerford, er wird es wohl nicht bereuen…
Reginald Arkell war übrigens ein bekannter englischer Bühnenautor, der so einige Musicals für Londoner Theater verfasste. Die Erlebnisse seines Charley Moon dürften daher nicht völlig aus der Luft gegriffen sein.

„Wha loues the laun, awns the laun, an the laun awns him“

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Zurück nach Fascaray

Annalena McAfee

Aus dem Englischen von Christiane Bergfeld

erschienen 2018 im Diogenes Verlag

ISBN 978-3-257-07020-0

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Ich bin sprachlos, was recht selten passiert. Wie schreibe ich über dieses Buch? Es ist völlig verrückt, es ist genial, ich bin schockverliebt? Ja, das trifft es am ehesten. Hiermit stelle ich mein Jahreshighlight 2018 vor, denn hiernach kann nichts Vergleichbares mehr kommen.
Aber von vorn: bei Durchsicht der Vorschau fiel mir dieses Buch auf. „Fascaray“. das klang gut, abgelegene schottische Insel, Nationaldichter, Identitätssuche waren die Stichworte, also habe ich mir das Ganze notiert. Und dann erschien es nicht. Für Mai war es angekündigt, jetzt im August ist es erst soweit, mit dem Warten wurde ich immer gespannter. Und dann kam der Tag, an dem der Postmann mir ein Diogenes-Päckchen in die Hand drückte, und heraus kam… ein Ziegelstein von einem Buch. Mit hauchdünnen Seiten. 951 Seiten, um genau zu sein.
Auf diesen 951 Seiten erzählt Annalena McAfee die Geschichte des fiktiven Eilands Fascaray, des fiktiven Dichters Grigor McWatt und die von Mhairi McPhail, die beauftragt wurde, ein McWatt-Museum auf der Insel aufzubauen. Das gelingt ihr derart phantastisch, dass ich erst einmal irritiert nach einer schottischen Insel namens Fascaray gesucht habe. Der Leser findet in diesem Buch Ausschnitte aus dem McWatt-Kompendium, einer Art Tagebuch, Teile von McWatts Werk in Deutsch und Schottisch, Kochrezepte, Bücherlisten, Ausschnitte aus Mhairis Arbeit über den Dichter, kurz eine komplette eigene Welt mitsamt Pflanz- und Tierlisten. Überhaupt diese Listen mit schottischen Ausdrücken zur Wetterlage, zur Flora und Fauna, grandios!
Zugegeben, man muss ein wenig irre sein, um sich durch all das durchzuarbeiten, man muss Schottland mögen, es hilft zumindest, und die schottische Sprache. Das trifft bei mir alles zu, daher bin ich selig in diesem Buch verschwunden und mit rollendem R und Rachen-Ch wieder hervorgekommen.
Aber dieses Buch ist nicht nur eine Liebeserklärung an Schottland, es wirft auch die Frage auf, was Heimat ist und was die eigene Identität eigentlich ausmacht. Macht einen ein unbekannter Urgroßvater zum Schotten oder doch auch die Liebe zur Kultur?
Und so ist „Zurück nach Fascaray“ für mich ein unglaublich intelligentes, liebevolles und vollkommen verrücktes Projekt, ein Roman, bei dem ich jede seiner 951 Seiten geliebt habe. Zum Abschluß möchte ich mich noch bei Christiane Bergfeld für die wunderbare Übersetzung bedanken, denn das ist bestimmt kein Spaziergang gewesen.
Und ein kleiner Tip am Rande: wer ein wenig sucht, kann im Internet eine Aufnahme des Liedes finden, mit dem Grigor McWatt berühmt geworden ist : Hame tae Fascaray. Den Background bilden Annalena McAfees Sohn und ihr Mann Ian McEwan.

Ich danke dem Diogenes Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Hinter den Kulissen

Im Hause Longbourn von Jo Baker

Im Hause Longbourn

Jo Baker

Aus dem Englischen von Anne Rademacher

erschienen 2014 im Knaus Verlag

ISBN 978-3-8135-0616-7

 

Als ich Jo Bakers Buch über die Kriegsjahre Samuel Becketts las ( Ein Ire in Paris ), da wußte ich noch nichts von diesem Roman. Das ist ein wenig verwunderlich, ist er doch ein Bestseller zum einen und angelehnt an Jane Austen zum anderen. Und ich lese Jane Austen wirklich gerne. Wie auch immer, der „Ire in Paris“ gefiel mir ausnehmend gut, ist für mich nach wie vor eines der besten in diesem Halbjahr gelesenen Bücher. In der obligatorischen Autorenvorstellung auf dem Umschlag stolperte ich dann über „Im Hause Longbourn“. Und da ich, wie schon erwähnt, Austens Bücher liebe, musste dieser Roman unbedingt gelesen werden.
Jo Baker hat eine Parallelhandlung zu „Stolz und Vorurteil“ verfasst, quasi hinter die Kulissen geschaut, genauer in die Dienstbotenräume. Während die Schwestern Bennet also ihre Heiratspläne schmieden, sind sie umgeben von dienstbaren Geistern, die Schuhe putzen, Unterröcke stopfen, Essen kochen und servieren, eben all die Arbeiten verrichten, die für Frauen von Stand nicht angemessen sind. Die Autorin hat Austens Roman dafür minutiös durchgearbeitet. Wenn in Austens Buch Kirschkuchen serviert wird, wird bei Baker welcher gebacken, wenn bei Austen Mr Darcy des Wegs geritten kommt, nimmt bei Baker James die Zügel entgegen. Das ist in der Grundidee eigentlich ganz spannend. So ein veränderter Blickwinkel kann ja Interessantes zutage fördern. Aber leider ist aus dieser guten Idee schlußendlich eine 08/15 Liebesschmonzette vor historischem Hintergrund geworden. Die Familie Bennet bleibt blass, ihre Angestellten sind Stereotypen. Die dicke resolute Köchin, der schöne und geheimnisvolle Hausdiener, die selbstbewusste anpackende Hausmagd. Um diese Geschichte so zu schreiben, hätte man Austens Roman wahrlich nicht als Vorlage benötigt.
Der Roman ist eine nette Ferienlektüre, durchaus unterhaltsam, ein bißchen romantisch, mit einem Worte : ganz nett. Mehr aber auch nicht. Und so hat es ein Gutes, dass mir der Beckett-Roman zuerst in die Finger geriet. Nach diesem historischen Schwank hätte ich ihn womöglich gar nicht mehr gelesen. Und das wäre wirklich ärgerlich gewesen. Daher mein Rat: lest Austen im Original und von Jo Baker lieber „Ein Ire in Paris“. Denn das ist, ich wiederhole es gern noch einmal, wirklich hervorragend.

Herta und Georg

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Ein schönes Paar

Gert Loschütz

erschienen 2018 im Verlag Schöffling & Co.

ISBN 978-3-89561-156-8

Longlist für den deutschen Buchpreis 2018

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Mein erster gelesener Roman von der diesjährigen Longlist für den Deutschen Buchpreis. Und ganz sicher nicht der schlechteste Einstieg in diese Liste.
Gert Loschütz erzählt von einer lebenslangen Liebe, einer Liebe, die trotz Trennung nicht endgültig loslassen kann, von zwei Menschen, die auf ewig verbunden bleiben.
Herta und Georg lernen sich kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs kennen, eine junge Verkäuferin und ein Berufssoldat. Obwohl beider Eltern die Verbindung nicht schätzen, werden die Beiden ein Paar. Sie bekommen einen Sohn, Philipp genannt Fips, und richten sich nach dem Krieg in der DDR ein. Doch weil das Leben dort kein Zuckerschlecken ist und ein Fehler schnell gemacht, ist die junge Familie irgendwann gezwungen, in den Westen zu fliehen. Dort zerbricht ihre Ehe, Herta läßt ihren Sohn bei Georg zurück und verschwindet jahrelang. Nur Postkarten geben in unregelmäßigen Abständen ein Lebenszeichen.
Loschütz versteht sein Handwerk. Stück für Stück setzt der Leser gemeinsam mit Philipp Hertas und Georgs Werdegang zusammen, wird man zu den wichtigen Kreuzungen in ihrer beider Leben geführt. Oft bleibt es dem Leser dabei selbst überlassen, sich das „Wie“ oder „Warum“ zu denken, vieles bleibt vage, einiges offen. Aber welcher Sohn weiß schon alles über das Leben seiner Eltern?
Der Roman ist wohl durchdacht, wohl formuliert und trotzdem sprang bei mir der Funke nicht über. Vielleicht weil mir das Handeln der Personen zu unverständlich war? Stellt ein Sohn seiner Mutter, die über Jahrzehnte verschwindet, wirklich keine Fragen, wenn sie urplötzlich wieder auftaucht? Und auch nicht dem Vater über die Gründe dieses Verschwindens, der Trennung? In jungen Jahren vielleicht nicht, aber später, als Heranwachsender, als Teenager?
Und dann wirkt der Text zu poliert auf mich, ja, tatsächlich zu professionell. Mir fehlt der Lebenshauch in der brillanten Konstruktion. Sprachlich wunderbar elegant, bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, ist eigentlich im Überfluss alles da, was ein Meisterwerk benötigt. Aber wirklich berührt hat mich der Roman nicht. Auf der Longlist steht er trotzdem definitiv verdient und hat sicherlich auch gute Chancen für die Shortlist.

Weitere Besprechungen:

LiteraturReich https://literaturreich.wordpress.com/2018/07/05/gert-loschuetz-ein-schoenes-paar/
Zeichen&Zeiten https://zeichenundzeiten.com/2018/02/06/getrennt-gert-loschuetz-ein-schoenes-paar/
Leseschatz https://leseschatz.com/2018/02/12/gert-loschuetz-ein-schoenes-paar/

 

Unity Mitford

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„Ich blätterte gerade in der Vogue, da sprach mich der Führer an.“

Michaela Karl

erschienen 2018 im btb Verlag

ISBN 978-3-442-71623-4

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Michaela Karl schreibt einfach wirklich lesenswerte Biographien. Erst kürzlich habe ich ihr Buch über New Yorks spitzeste Feder Dorothy Parker gelesen, nun folgte ihr neuestes Werk über Unity Mitford. Was die Bücher Frau Karls ausmacht, ist die sehr gute Recherche, der nachvollziehbare Aufbau ohne unnötiges Namedropping und die durchgehend spannende Ausarbeitung. Zusammenhänge klar zu erklären und dabei charmant zu erzählen, das Talent hat wahrlich nicht jeder…
Diesmal also Unity Mitford. Aber wer zum Henker ist das? Ein leises Klingeln hatte ich im Hinterkopf beim Namen Mitford, jedoch in Verbindung mit dem Namen Nancy. Und, bingo, Unity ist eine der sogenannten Mitford Schwestern, die in den Zwanziger und Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts Englands Tageszeitungen recht häufig zierten.
Die Mitford Schwestern sind die sieben Töchter von Lord und Lady Redesdale. Aufgewachsen in für die Zeit erstaunlicher Freiheit auf dem Lande und nicht an eigener Meinungsbildung gehindert, werden sie genauso schön wie exzentrisch. Nancy und Diana, Unitys ältere Schwestern, sind gern gesehene Ballgäste, weltoffen, mit großem Freundeskreis. Unity dagegen gilt früh schon als schwierig und aufmüpfig. Als Diana Geliebte des englischen Faschistenführers Mosley wird, wendet auch Unity sich dem Faschismus zu. Sie reist nach Deutschland, lernt dort tatsächlich Hitler kennen und eine enge Freundschaft entsteht.
Michaela Karl versucht aufwendig nachzuvollziehen, wie aus einem englisches Upper class girl eine hartgesottene Nationalsozialistin werden konnte. Wie ein intelligenter, charmanter, fröhlicher Mensch einer solchen menschenverachtenden Idiologie blind folgen konnte, alles ausblendend, was nicht ihrem Weltbild entsprach.
Es ist nicht nachzuvollziehen, zumindest für mich nicht. Frau Karl holt sehr weit aus, berichtet über Herkunft und Umfeld, über Einflüsse, politische Strömungen, aber Unity bleibt blass, nicht greifbar. Sie soll aufgedreht und dumm gewesen sein, sagen die einen, die anderen sprechen von ihrem Charme und ihrer Aufgeschlossenheit. Definitiv war sie wohl eines der ersten Fangirls, völlig ihrem Idol Hitler verfallen. Schlimmer noch, es gelingt ihr, auch einen Teil der Familie damit anzustecken. Ihre Schwester Diana wird bis zum Tode bekennende Faschistin bleiben.
Für mich war es hochinteressant zu lesen, wie viele Engländer den deutschen Nationalsozialismus bewundert und auch gefördert haben. Wie gesellschaftsfähig Faschismus und Judenhass auch dort waren. Ich wusste, dass es diese Strömungen dort gab, P.G. Wodehouse z.B. macht sich mit seiner Figur Spade über oben erwähnten Oswald Mosley lustig, aber wie offen Hitler von britischen Adelskreisen hofiert wurde, war mir nicht klar.
Auch wenn sich mir die Beweggründe Unitys nicht wirklich erschlossen haben, ist diese Biographie äußerst lesenswert und sollte unsere Wachsamkeit wecken. Denn Menschenverachtung kommt nicht immer dumpf und kahlgeschoren daher. Nein, manchmal erscheint sie auch als elegante, redegewandte Dame von Welt. Aber wie auch immer sie auftritt, man muss ihr frühzeitig entgegen treten.

Ich danke dem btb Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Erinnerungen

Die Unruhigen von Linn Ullmann

Die Unruhigen

Linn Ullmann

Aus dem Norwegischen von Paul Berf

erschienen 2018 im Luchterhand Literaturverlag

ISBN 978-3-630-87421-0

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„Um über wirkliche Personen zu schreiben wie Eltern, Kinder, Geliebte, Freunde, Feinde, Onkel, Brüder oder zufällige Passanten,ist es notwendig, sie zu fiktionalisieren. Ich glaube, dies ist der einzige Weg, ihnen Leben einzuhauchen.“
(S. 287)

Dies ist das Leitmotiv dieses Buches. Linn Ullmann schreibt über ihr Leben, ihre Erinnerungen, ihre Eltern, die Schauspielerin Liv UIlmann und der Regisseur Ingmar Bergman. Das alles soll fiktiv sein und doch kommt man den Personen näher als jede Biographie das vermocht hätte.
Vater und Tochter möchten eine Reihe Tonbandaufnahmen machen, um Gespräche über das Leben und das Altern festzuhalten und daraus ein Buch zu machen. Doch als es soweit ist, ist es eigentlich zu spät, dem Vater sind Worte und Erinnerungen abhanden gekommen. Später wird er seine Tochter nicht mehr erkennen. Das erste Mal aufgefallen ist ihr die schleichende Veränderung des Vaters, als er zu einer Verabredung zu spät kommt und sich nicht entschuldigt. Er, der auf Pünktlichkeit zeitlebens bestand und für den eine verspätete Minute ein Vergehen war, kommt zwanzig Minuten nach der vereinbarten Zeit und merkt es nicht einmal. Es sind diese Kleinigkeiten, die nur Angehörige wissen können, die plötzlich eine große Bedeutung bekommen.
Und mit solchen Momenten ist das Buch gefüllt. Erinnerungen an die Besuche beim Vater, die Eltern hatten sich früh getrennt, an die Ferien in Hammars, dem Landsitz des Vaters. Erinnerungen an die Jahre mit der schmerzhaft bewunderten Mutter, der Schauspielerin, die ihre Tochter bei der Oma und wechselnden Kindermädchen parkt und sich doch selbst so sehr nach heiler Welt und Geborgenheit sehnt. Erinnerungen, die so wunderbar klug und feinfühlig niedergeschrieben wurden, dass man die Autorin stellenweise einfach umarmen möchte. Selten habe ich ein Buch gelesen, dass mich so berührt hat, und das ganz ohne Pathos oder Rührseligkeit.  Linn Ullmann erinnert sich liebend an ihre Eltern, sie stellt nicht bloß, auch nicht da, wo sie es könnte und vielleicht sogar Grund dazu hätte. Und beschreibt dabei Momente, in denen man Schmerz und Trauer hautnah spüren kann, Momente, in denen mir die Tränen einfach herunterliefen und ich trotzdem lächeln musste, weil Bücher solche Emotionen bei mir nur selten hervorrufen.
Und die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wieso ich diese ja durchaus nicht unbekannte Autorin erst jetzt entdecke, die so schreiben kann, dass ich hilflos meinen eigenen Gefühlen ausgesetzt bin, dass ich ein vierhundert Seiten starkes Buch über die Vergangenheit anderer Menschen in anderthalb Tagen lese und dabei alles stehen und liegen lasse, was mir vorher wichtig erschien.
„Die Unruhigen“ ist ein ungeschminktes, sehr ehrliches Buch, eines, das auf sehr leise Art unter die Haut geht und eines, das mich unglaublich beeindruckt hat. aber das hat wohl inzwischen jeder Leser dieser Besprechung schon gemerkt.

Ich danke dem Luchterhand Literaturverlag sehr herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Weitere Besprechungen:

Zeichen & Zeiten https://zeichenundzeiten.com/2018/07/28/liebe-der-eltern-linn-ullmann-die-unruhigen/
letteratura https://letteraturablog.wordpress.com/2018/08/05/abschied-vom-vater-linn-ullmann-die-unruhigen/
Thomas Borchert https://thomasborchert.co/2018/06/19/linn-ullmanns-sechster-roman-meisterlich-und-viel-mehr-als-autofiktion/

 

 

Mrs Parker und das Leben

Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber von Michaela Karl

„Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber“

Michaela Karl

erschienen 2012 im btb Verlag

ISBN 978-3-442-74493-0

 

Gleich zu Anfang muss ich mich einfach über die fatale Neigung Michaela Karls zu kalauernden Titeln äußern. Es handelt sich zwar um ein „mot“ der Parker, aber ob es „bon“ genug ist, um ausgerechnet den Titel abzugeben? Da sie es scheinbar bei all ihren Biographien so macht, hat es zugegeben Wiedererkennungscharakter, aber das macht mich wahrlich nicht glücklicher. Hätte Dorothy Parkers Name nicht dabei gestanden, hätte ich das Buch nicht gelesen – und das wäre überaus bedauerlich gewesen.
Frau Karl kann nämlich hervorragend Biographien schreiben. Sie scheint gründlich zu recherchieren und sich das Leben ihres jeweiligen Titelgebers von allen möglichen Seiten zu betrachten. Dabei schreibt sie klug und warmherzig, ohne reine Fakten aufzuzählen, aber auch ohne in Skandalen zu baden.
In diesem Falle geht es also nun um Dorothy Parker, Society – Ikone der Zwanziger und mit der schärfsten Zunge New Yorks gesegnet. Es ist Frau Karl hoch anzurechnen, dass sie die Parker nicht nur auf Bettgeschichten und Alkohol reduziert (trotz des Titels), sondern ihren Werdegang erzählt, von der Kindheit in einem nicht sehr gläubigen jüdischen Haushalt, über die ersten Schreibversuche, ihre Arbeit bei Vogue und Vanity Fair und ihre Erfolge als Schriftstellerin. Sie gehört zu den großen amerikanischen Autoren ihrer Zeit. Bedauerlich, dass sie in Vergessenheit zu geraten scheint. Ihr Metier waren Gedichte und Kurzgeschichten, am eigenen Roman sollte sie lebenslang scheitern.
Sie ist Mitglied einer Gruppe von Künstlern, die sich regelmäßig im Hotel Algonquin treffen und zu der zeitweise auch F. Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway gehören. Ironie, Witz, Schlagfertigkeit und ein gewaltiger Alkoholkonsum sind Grundvoraussetzungen, um dort zu bestehen. Dorothy Parker ist die unbestrittene Queen dieser Tafelrunde. Untalentiert ist sie scheinbar nur darin, ihr persönliches Glück zu finden. Sie hat eine fatale Neigung, sich in Alkoholiker zu verlieben und schlußendlich wird kein Beziehungsversuch gelingen. Sehr feinfühlig erzählt Michaela Karl vom Auf und Ab im Leben der Parker, von den absoluten Höhenflügen bis hin zu Selbstmordversuchen. Sie erzählt von der Einsamkeit und fehlenden Liebe, der Kompensation durch Reisen und Feiern, davon , dass der große Teil der Algonquin-Runde nicht alt wird. Denn irgendwann sind die goldenen Zwanziger vorbei, und was vorher spritzig war, verliert an Glanz.
Eine ganz wunderbare Biographie einer hochtalentierten Schriftstellerin, einer Frau mit eigener Meinung, die sich nie gescheut hat, diese auch zu äußern, die ihren eigenen Weg gegangen ist, zu Zeiten, wo das für Frauen eher skandalös war und die schon allein deshalb nicht vergessen werden sollte.

Erdtoffeln

9783462049688

Die Gleichung des Lebens

Norman Ohler

erschienen 2017 im Verlag Kiepenheuer & Witsch

ISBN 978-3-462-04968-8

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1747. Friedrich der Große möchte aus Teilen des Oderbruchs Ackerland schaffen, um dort Kolonisten anzusiedeln und somit die Bevölkerungszahl Preussens schnell zu erhöhen. Ernährt werden sollen die Neubürger mit den bislang noch relativ unbekannten „Erdtoffeln“, sprich mit Kartoffeln. Die bisherigen Bewohner der Gegend, traditionell Fischer, sind nicht erfreut, Widerstand beginnt sich zu regen. Als der zuständige Ingenieur Mahistre tot aufgefunden wird, beruft der König den Mathematiker Leonhard Euler auf den Plan, der den Fall mit der ihm eigenen Logik lösen und dabei auch das Gebiet gleich ausmessen soll.
Eine grandiose Mischung aus Geschichtslektion und Krimi legt Ohler hier vor. Während man Euler durch das Oderbruch folgt, erfährt man wie nebenbei viel über die ursprüngliche Lebensweise dort, über die Landschaft, über Traditionen und schlußendlich auch darüber, dass Geschichte zu Wiederholungen neigt. Denn zum einen ist eine Trockenlegung natürlich ein riesiger Eingriff in die Natur mit nicht berechenbaren Folgen und zum anderen führt eine großräumige Neuansiedlung ebenso natürlich nicht zu Jubelgeschrei der bereits Anwesenden. Friedrich kümmert das herzlich wenig. Der König bestimmt und seine Untertanen mögen… nein, gehorchen nicht, verstehen und beipflichten sollen sie ihm, der ja nur ihr Bestes will. Das sein Plan nur am Reißbrett entworfen wurde, ohne wirkliche Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten, ist dabei zweitrangig.
Scheinbar gründlich recherchiert, hat mich der Roman auf ganzer Linie überzeugt. Selbst die Sprache, mit verschachtelten Endlossätzen, normalerweise der Tod jedweder Spannung, erscheint hier nur richtig und passend. Erinnern die Formulierungen doch an die damals übliche Redeweise. Die Charaktere sind schlüssig, wenn auch nicht alle gleich gut ausgearbeitet, das wäre aber auch rahmensprengend gewesen. Die Erinnerung an Preussens Verknüpfung mit dem Sklavenhandel in Westafrika fand ich äußerst interessant, war mir das Wirken der Brandenburgisch-Afrikanischen Companie doch gänzlich unbekannt. Ohler führt einige hoch spannende Fäden zusammen und gibt damit Einblick in eine Zeit, die romantechnisch noch ziemliches Brachland ist. Wer also Bücher mit historischem Hintergrund mag, der dürfte mit diesem Roman sicherlich glücklich werden.

Weitere Besprechungen des Romans:

Max Kuhlmann https://maxkuhlmann.com/2018/02/07/literatur-norman-ohler-die-gleichung-des-lebens/

Damals

9783462045956

Im Lichte der Vergangenheit

John Banville

Aus dem Englischen von Christa Schuenke

erschienen 2014 bei Kiepenheuer & Witsch

ISBN 978-3-462-04595-6

 

Es gibt Bücher, da prägen sich Autor und Titel so miteinander verbunden ins Gedächtnis ein, dass derselbe Autorenname mit anderem Titel irritierend wirkt. Bei mir ist das so bei „John Banville – Die See“. Das gehört genau so zusammen, in einem Atemzug ausgesprochen. Erfreulicherweise hat Banville nicht nur dieses eine Buch geschrieben, aber ich stutze trotzdem jedes Mal für eine Sekunde bei seinen anderen Titeln.
Für mich gehört Banville zu den besten Schriftstellern Irlands derzeit. Ich mag sein Spiel mit der Vergangenheit, der Veränderbarkeit von Erinnerung. Ich mag seine Art zu schreiben, seine klaren, feinsinnigen Sätze, sein Einfühlungsvermögen. Und ich mag seine Charaktere, die nie stromlinienförmig sind, die eigentlich immer auf einer Sinnsuche sind, auch im Alter noch.
In diesem Roman nun erinnert sich der Schauspieler Alex Cleave an seine erste große Liebe, die Mutter seines besten Freundes. Er erinnert sich an die versteckten Treffen, an gemeinsames Lachen und auch an den Skandal, als das ungleiche Paar irgendwann entdeckt wird. Aber war das alles wirklich so? Oder täuscht ihn seine Erinnerung und dieser besondere Sommer ist doch anders verlaufen?
Cleave kämpft auch noch mit anderen Geschehnissen in der Vergangenheit, mit dem Selbstmord seiner Tochter und dem daran zerbrochenen Verhältnis zu seiner Frau.
Es braucht einen großen Schriftsteller, um diese Themen leichtfüssig, aber nicht leichtfertig zu verbinden. Einen Schriftsteller, der das Buch nicht in Schwermut und Bedeutungsschwere ertrinken läßt. Banville ist so ein Schriftsteller. Nie benutzt er seine Figuren, um eigene Meinung oder eigenes Wissen zu demonstrieren, nie hat man als Leser das Gefühl, die eigene Unwissenheit vorgeführt zu bekommen. Banville schreibt ebenso poetisch wie verständlich.
„Im Lichte der Vergangenheit“ ist ein ebenso kluges, wie berührendes Buch, dessen Ende, das sei aber nur kurz angemerkt, mir ein wenig überfrachtet erschien. Das fällt aber im Vergleich zum wunderbaren Rest des Romans kaum zu Gewicht. Eine Kunst ist es übrigens auch, so selbstverständlich und natürlich über Sex zu schreiben, dass der Leser nicht peinlich berührt ob der Wortwahl die Augen schließt oder sich geifernd über die Lippen leckt. Und dabei eine Frau nach zwei Schwangerschaften zu beschreiben, so wie sie eben ist, ohne sie dabei lächerlich zu machen. Es ist für mich einer der großen Pluspunkte des Romans, dass es hier um echte Menschen geht, mit Narben, Dehnungsstreifen und anderen Macken. Aber anderes wäre bei Banville auch gar nicht vorstellbar.
Ein rundherum lesenswertes Buch, feinsinnig, berührend, klug.

Die Familien-Saga schlechthin

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Die Forsyte Saga

John Galsworthy

erschienen 1951 im Bertelsmann Verlag

Der Verlag edition Oberkassel bringt gerade eine Neuauflage der drei Bände heraus.

 

Die Forsyte Saga ist die Familien-Saga schlechthin. Sie erzählt das Leben einer englischen Oberschichtfamilie zwischen 1906 und 1921 mit vielen Skandalen, Irrungen, Wirrungen und einer Unmenge an Personal. Da wäre die alte Generation, bestehend aus zehn mehr oder minder wichtigen Geschwistern, die folgende Generation, nicht ganz so umfangreich, und deren wechselnde Partner und auch noch die darauf folgende Generation. Und wie das in traditionellen Familien so üblich ist, tragen sie teilweise auch noch dieselben Vornamen.
Warum sollte man sich das also antun? Weil es hervorragend geschrieben ist, ganz einfach. „Die Forsyte Saga“ ist der Grund füt des Autors Literatur-Nobelpreis, nicht nur, aber wohl doch hauptsächlich. In drei Bänden beschreibt er den Umbruch vom viktorianischen Zeitalter zur damaligen Neuzeit, die gesellschaftlichen Änderungen durch den Ersten Weltkrieg, die Unterschiede zwischen den Generationen. Hauptpersonen sind dabei Soames Forsyte und seine (später geschiedene) Frau Irene, an denen Galsworthy das gesamte Besitzdenken und die moralischen Vorstellungen ihrer Zeit durchexerziert. Irene verliebt sich in den Verlobten der Nichte Soames‘ und Soames spielt alle Register, um seine Ehe aufrecht zu erhalten. Dabei erfahren wir aber ebenso genau, was die anderen Mitglieder der Familie von der Sache halten und vor allem über welche Themen der Familienrat spricht oder lieber schweigt.
Und weil solche Beschreibungen das Salz in der Suppe sind und ein Zeitfenster erst so wirklich öffnen, berichtet Galsworthy auch über die Architektur, die Inneneinrichtung, die Mode, die gesellschaftlichen Anlässe und ist darin ein wahrer Meister.
Somit ist die Forsyte Saga im Grunde Vorgänger aller Dallas, Denver und sonstigen Serien, eingeschlossen Downton Abbey. Verfilmt wurde das Ganze natürlich auch schon mehrfach, zuletzt 2002 als Zehnteiler.
Man braucht ein wenig Durchhaltevermögen, um sich durch die verzweigten Familienverhältnisse zu arbeiten und an Galsworthys Schreibstil mit den vielen Abschweifungen zu gewöhnen, aber mit der Zeit öffnet sich ein Panoramafenster in eine vergangene Zeit, so lebendig, wie man es sich nur wünschen kann.