Feinsinniges Debüt

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Leinsee

Anne Reinecke

erschienen 2018 im Diogenes Verlag

ISBN 978-3-257-07014-9

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Mit zehn Jahren wird Karl in ein Internat gebracht. Sein Eltern, ein berühmtes Künstlerpaar, möchten ihm „ein normales Leben ermöglichen“, „einen eigenen Weg außerhalb ihrer Berühmtheit.“ Im Grunde schieben sie ihn aber schlicht ab, weil die Verpflichtung sich um ein Kind zu kümmern sie von der künstlerischen Arbeit abhält. Im Leben des Ehepaars Stiegenhauer ist nur Raum für die Liebe zueinander und die gemeinsame Kunst.
Zwanzig Jahre später reist Karl, inzwischen selbst ein bekannter, aber ins Mittelmaß abrutschender Künstler, zurück nach Leinsee, den Ort, wo er seine Kindheit verbracht hat und wo die Eltern weiterhin gewohnt haben. Seine Mutter liegt unheilbar krank im Krankenhaus, der Vater hat sich daraufhin das Leben genommen. Karl muss sich seinen Erinnerungen stellen und nun tatsächlich einen eigenen Weg finden, sein Leben zu gestalten. Unerwartete Hilfe findet er bei der achtjährigen Tanja, deren unbekümmerte Lebensfreude und Neugier verschlossene Türen öffnet.

„Leinsee“ ist der Debütroman Anne Reineckes, ein Debüt, das beeindruckt und auf weitere Arbeiten der Autorin hoffen lässt.
Feinsinnig und zugleich kraftvoll zeichnet sie Karls Weg, zeigt seine Wunden und Narben und scheut sich auch nicht, dabei an Grenzen gesellschaftlicher Norm zu rütteln. Ihm zur Seite stellt sie Tanja, Elfe und Kobold zugleich, nicht wirklich greifbar, aber spürbar anwesend und Karls Denken vereinnahmend.
Mit scheinbar müheloser Hand malt Anne Reinecke Szenen, weiß, was und wen sie ins Licht stellt, oder wo sie lieber nur andeutet. Sie scheut sich auch nicht zur Karikatur zu greifen, wenn es denn nötig ist, wie geschehen bei „Buddy Holly“, dem Assistenten der Eltern. Und so ist ein, trotz der Ernsthaftigkeit der Themen, schwereloser und luftiger Roman entstanden, ein Aquarell eines Lebenswegs.
Eine ganz besondere Freude waren für mich die Kapitelüberschriften. Eine Farbpalette von „Teichgrün“ über „Gottweiß“ und „Salamirot“ bis zu „Klirrsilbern“ gibt die Stimmung des Kommenden vor oder Erinnerungen eine Farbe. Ein weiteres Zeichen dafür, wie sorgsam dieser Roman komponiert, wie sehr auf Details geachtet wurde.

Ein Künstlerroman, eine Liebesgeschichte, eine Erzählung über Selbstfindung und Vergangenheitsbewältigung, dabei nie überladen und ohne Längen, und daher ein wirklich rundum gelungenes Buch.

Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Rezensionen zu diesem Buch:

Buchsichten http://www.buchsichten.de/2018/02/rezension-ingrid-leinsee-von-anne.html
Alues Bücherparadies https://aluesbuecherparadies.wordpress.com/2018/02/28/rezension-leinsee-von-anne-reinecke/

 

Lied der Freiheit

100

Kastelau

Charles Lewinsky

erschienen 2014 im Verlag Nagel & Kimche

ISBN 978-3-312-00630-4

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Um den Kriegswirren in Berlin 1944 zu entkommen, reist ein Filmteam der UFA zu angeblichen Dreharbeiten in die bayrischen Alpen, in das verschlafene Dörfchen Kastelau. Auf engstem Raum und mit primitiven Mitteln versuchen sie den Eindruck aufrechtzuerhalten, sie drehten einen kriegswichtigen Film. Im Laufe der Zeit und unter dem Druck der Situation zeigt dabei jeder seinen wahren Charakter.
Erzählt wird in der Rückblende, mit Hilfe von Material, bestehend aus Drehbuchschnipseln, Interviews mit einer Darstellerin und Tagebucheinträgen des Drehbuchschreibers, die ein junger Amerikaner für seine Doktorarbeit zusammengetragen hat.

Angelehnt an die letzten Kriegsmonate Erich Kästners, die dieser in seinem literarischen Tagebuch „Notabene 45“ beschrieb und die er in Tirol bei den Dreharbeiten zu dem Film „Das falsche Gesicht“ verbrachte, verfasste Charles Lewinsky einen faszinierenden Roman, der Puzzleteilchen für Puzzleteilchen die (fiktiven) Geschehnisse in dem kleinen Bergdörfchen Kastelau enthüllt. Er erzählt von Werner Wagenknecht, einem von den Nazis mit Schreibverbot belegten Autor, der unter dem Decknamen Frank Ehrenfels das Drehbuch zu dem Film namens „Lied der Freiheit“ verfasst, von Tiziana Adam, einer jungen aufstrebenden Schauspielerin und von dem später sogar in Hollywood berühmten Schauspieler Walter Arnold, der ein Meister darin ist, das Fähnlein karrierefördernd mit dem Wind zu drehen.

Trotz der nicht immer zusammenhängenden Schnipsel, gelingt Lewinsky eine eindringliche Personenzeichnung, wird Kastelau mit seinen Einwohnern und dem Filmteam lebendig. Das ist natürlich vor allem den Interviewteilen mit der wunderbaren  Tiziana Adam zu verdanken, bei der man sich wirklich nicht vorstellen kann, dass es sich um eine erfundene Person handeln soll. Man wünscht sich fast, man könne sie in ihrer Berliner Kneipe aufsuchen. (Würde sie wohl gar nicht wollen. Aber trotzdem.)

Die Geschehnisse in Kastelau hallen auch nach Beenden des Buches nach. Gerade weil die Abläufe so wahrscheinlich und nachvollziehbar sind, weil sie in Teilen sicher in ganz Deutschland ähnlich abgelaufen sind, hinterlassen sie fast unmerklich Frösteln und Gänsehaut. Nicht ohne Grund stand „Kastelau“ 2014 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Ein phantastisch komponierter Roman über die letzten Kriegsmonate, ein Kammerspiel über Menschen unter Druck, mehr oder weniger abgeschlossen von der Außenwelt. Über Kadavergehorsam und Mutterliebe. Über Lebenslügen und den Preis ihrer Aufrechterhaltung.

 

Weitere Rezensionen zu diesem Buch findet ihr hier:

Literaturgeflüster https://literaturgefluester.wordpress.com/2014/09/21/kastelau/

 

Bride and Prejudice

978-3-498-04531-9

Gott, hilf dem Kind

Toni Morrison

Aus dem Englischen von Thomas Piltz

erschienen 2017 im Rowohlt Verlag

ISBN 978-3-498-04531-9

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„Gott, hilf dem Kind“ ist ein weiterer Roman der Nobelpreisträgerin Toni Morrison, in dem es auch um Rassenfragen geht. Lula Ann, Tochter zweier Farbiger mit hellem Hautton, kommt als tiefschwarzes Baby zur Welt. Daraufhin verlässt der Vater die Familie, und die Mutter zieht ihre Tochter nur mit Widerwillen groß. Später macht Lula Ann unter dem Namen Bride Karriere in der Kosmetikindustrie, findet und verliert ihre große Liebe. Auf der Suche nach Booker, der sie plötzlich und ohne Vorwarnung verlassen hat, erfährt sie viel über sich und die Welt, in der sie lebt.
Erzählt wird Brides Geschichte im Wechsel von ihr selbst, ihrer Mutter, einer Freundin und einigen anderen Personen, die jeweils ein weiteres Puzzleteil zum Geschehen hinzufügen.

Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Kindesmißbrauch durch den Roman und das Schweigen, das zu diesem Thema allerorten gemeinhin herrscht. Toni Morrison erzählt davon, was dieses Schweigen macht mit denen, die nicht reden dürfen, können oder wollen, mit denen, deren Trauer öffentlich unerwünscht ist, weil das Leben ja weiter geht, mit denen, die die Schuld spüren, die in diesem Schweigen liegt.

Große Themen, großartige Sprache und trotzdem ist dieser Roman im Vergleich zu früheren Werken der Autorin eher blass. Zu viel wird nur angerissen, zu viele Erzählstränge werden nicht weitergeführt, zu viel, das passiert in der Kürze des Buches. Ich hätte mir einen breiter angelegten Roman gewünscht, den Dingen mehr Zeit sich zu entwickeln, den Charakteren mehr Tiefe. Vor allem Brides körperliche Veränderungen und ihre Ursache hätten in meinen Augen mehr Raum beanspruchen dürfen.
Das ist natürlich schon Jammern auf hohem Niveau, aber in diesem Roman steckt einfach so viel mehr, das zu erzählen wäre, blitzt soviel Fabulierlust und Formulierkunst auf, dass man am Ende das Buch zuklappt und denkt „Das war’s schon? Das kann nicht sein…“ Viele Fragen bleiben offen, viele Lebensläufe unerzählt und manche Charaktere wirken eher wie Mittel zum Zweck. Besonders auffällig ist das bei Sofia, die durch eine untilgbare Schuld mit Bride verbunden ist und trotzdem nur eine kleine Nebenrolle spielt, gerade so lange bis der Anfang gemacht ist und sie im Dunkel der nicht weiter Erwähnenswerten verschwindet.

Wer sich allerdings einen Einblick in das Werk Toni Morrisons verschaffen möchte, der findet hier ihre Hauptthemen auf dem Silbertablett: afroamerikanischer Überlebenswillen, Rassismus und starke Frauen, die ihren Weg suchen und finden, trotz oder weil die Umstände es eigentlich nicht zulassen. Der findet hier auch den Sprachreichtum und die überbordende Phantasie, die die Romane Morrisons auszeichnen und den Humor, der auch nach den düstersten Szenen Licht in das Geschehen bringt.

Ein Einstieg in das Werk Toni Morrisons, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

 

Weitere Rezensionen zu diesem Buch findet ihr hier:

Live your life with books: https://liveyourlifewithbooks.wordpress.com/2017/10/14/gott-hilf-dem-kind-toni-morrison/
literaturleuchtet: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2017/07/25/toni-morrison-gott-hilf-dem-kind-rowohlt-verlag/
aufgeblättert https://aufgeblaettert.org/2017/08/04/schwarze-braut/
Buzzaldrins Bücher: http://buzzaldrins.de/2017/05/23/gott-hilf-dem-kind-toni-morrison/

Der Orkfresser

Es ist wieder Freitag, Zeit für den Buchtipp zum Wochenende. Diesmal von Thomas Reichert, freiberuflicher Lektor, vor allem im Bereich des Fach- (v.a. Psychologie/Psychotherapie) und Sachbuchs. Er stellt euch ein Buch vor, für das ihr euch noch ein wenig gedulden müsst, da es erst im März erscheint.

 

Witzig, oft skurril, phantasievoll – ein großes Lesevergnügen

Es sind Bücher verschiedener Art, denen ich besonders viele Leser wünsche: etwa solche, die besonders wichtig sind und die es schaffen, dass man Phänomene dieser Welt noch mal neu und anders sieht (z.B. Carolin Emcke, „Gegen den Hass“, S.Fischer); Geschichten, die besonders berühren (z.B. Rachel Kochawi, „Das Brot der Armut“, Edition AV); oder auch Bücher, die von einer im Allgemeinen eher unbekannten Welt erzählen (z.B. Michel Ragon, „Das Gedächtnis der Besiegten“, ein Roman zum Anarchismus, ebenfalls Edition AV). „Der Orkfresser“ von Christian von Aster, den ich hier vorstelle, ist ein Buch, das einfach großen Spass macht. Ich hatte zuvor zwei Fantasy-Titel des Autors gelesen, den „Letzten Schattenschnitzer“ und das „Eherne Buch“. „Der Orkfresser“ ist damit nicht zu vergleichen; obwohl in der Hobbit Presse, der Fantasy-Abteilung des Verlags Klett-Cotta, erschienen, ist das Buch keine Fantasy, aber ein Titel voller Ideen, eine Art Hohes Lied der Phantasie.

Der Orkfresser aus dem Titel des Buchs ist der Fantasyautor Aaron Tristen, der zum Ende einer Lesung aus seinem Werk eine Gruppe Orks verprügelt: als Orks verkleidete Studenten, Rollenspieler, die sich, vom Verleger eingeladen, „für einen Abend dankbar an einem Gratisbüfett herumdrücken und für einen Bruchteil dessen, was eine Agentur in Rechnung stellen würde, das Publikum bespaßen“ (S. 9 f.). Tristen liest aus seinem neuen Werk „Engel gegen Zombies II: Moderne Schwingen“, einer „Mischung aus Engel-SM, Zombieselbstfindung und ätherischer Wunderlanddystopie“ (S. 17). Zuvor hat er bereits Werke wie „Orks gegen Aliens“, „Einhörner gegen Vampire“ und „Engel gegen Zombies, Teil 1“ verfasst. Tristen ist ein wahrer Erfolgsautor, verdient gut, doch das Ganze hat einen Schönheitsfehler: Er hält das, was er schreibt, für Schund,routiniert in Szene gesetzt und auf die Erwartungen seines Verlegers und des Publikums hin geschrieben; er weiß, dass er sich von dem, was er einmal schreiben wollte, weit entfernt hat, dass er sich selbst untreu geworden ist. Wegen der Abgabe seines neuen Manuskripts unter Druck gesetzt, flieht er in eine andere Stadt, gerät dort in einen Rockerkrieg und kommt mit Hilfe eines alten Freundes in Kontakt zur Schreibgruppe eines orientalischen Erzählers, der seinen Schutzbefohlenen das Reich der Literatur und Phantasie erschließt.

Der erste Teil des Romans hat durchaus auch Elemente einer Satire des Literaturbetriebs, sofern dieser primär auf Massenproduktion und wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet ist, inklusive der Leserin (Saskia, Nickname: Lady Schimmerschwinge), deren begeisterte „Rezession“ (S.119 f.) u.a. lobt, dass der Autor die Spannung  bis zum Ende „aufrechterhellt“. „Das letzte Buch das mich derart berührt hat, war „Drachendirne“ von P.T. Scrotch, meinen anderen Lieblingsautor.“ Von Aster hat sich offensichtlich in Leserforen umgesehen, wo es immer wieder solche Besprechungen gibt. Eine schöne Idee auch die „fellbesetzte Kreaturenbändiger-Edition“, die es von einem der Tristen’schen Werke gibt (S. 19 f.).

Im zweiten Teil betreibt von Aster verstärkt ein Spiel mit den Identitäten der Protagonisten seines Romans, regelmäßig auch mit einem Augenzwinkern. Immer wieder muss Tristen erkennen, dass unter dem äußeren Erscheinungsbild der Personen anderes steckt, als er zunächst angenommen hat. Jemand, der scheinbar abends Pornos guckt, arbeitet an einem Buch “ über die veränderte Wahrnehmung der Frau im Hinblick auf die sexuelle Mündigkeit des Individuums in der westlich geprägten Medienwelt im Zuge der Entwicklung pornografischer Subkultur vom 20. bis zum 21. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Internets, erschwerter Monetarisierung sowie selbst generierter Inhalte“. „… du ahnst nicht, was man sich da alles anschauen muss. Hab schon mehr als einmal gedacht, dass ich es nicht mehr aushalte. Man fragt sich manchmal wirklich, was in gewissen Leuten so vorgeht“, sagt er zu Tristen (S. 229 f.). Ein etwas tumb wirkender scheinbarer Kleinkrimineller hat einen Fantasyroman in der Schublade, wie ihnTristen gerne geschrieben hätte. Und auch der Geschichtenerzähler ist jemand anders, als er zu sein schien. Identitäten sind nicht eindeutig und mit Hilfe der Phantasie gewinnt man manchmal, wenn man die Chance ergreift, die Möglichkeit, sich neu zu erfinden, wie Tristen lernt.

Das Ganze ist in witzig-schnodderigem Ton erzählt, voller oft skurriler Einfälle. Nach einiger Zeit habe ich mich gefragt, ob der Autor das wirklich bis zum Ende durchhalten kann, und die Antwort war: Ja, das kann er!

 

9783608981216

Der Orkfresser

Christian von Aster

erscheint am 10.03.2018 in der Hobbit Presse des Klett-Cotta Verlags

ISBN 978-3-608-98121-6

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Und hier ist noch de Link zu einer Leseprobe: https://www.klett-cotta.de/media/14/9783608981216.pdf

 

All die Probleme

100

All die Jahre

J. Courtney Sullivan

Aus dem Englischen von Henriette Heise

erschienen 2018 im Deuticke Verlag

ISBN 978-3-552-06366-2

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Es ist schon ein paar Jahre her, da las ich den Roman „Die Verlobungen“ von J. Courtney Sullivan und mochte das Buch sehr. Als ich nun sah, dass demnächst ein neuer Sullivan-Roman erscheinen würde, habe ich mich wirklich gefreut. Leider zu früh. Aber beginnen wir mit dem Wichtigsten, dem Inhalt:

Wir lesen über das Leben von Nora und Theresa, zweier Schwestern, die 1957 von Irland nach Amerika auswandern. In Zeitsprüngen zwischen Vergangenheit und Gegenwart wechselnd, erfahren wir ihre Wünsche, Träume, Hoffnungen und was schlußendlich davon übrig geblieben ist.

Was zunächst recht spannend klingt, entpuppt sich als schicksalsschwangere, in Problemen schwelgende Erzählung, die zugegebenerweise aber ansprechend formuliert ist. Jede, wirklich jede Person des an Personen nicht armen Romans, immerhin bringt es Nora allein auf vier Kinder, trägt ihr Päckchen. Sohn Nr. 1 ist dem Alkohol recht zugetan und geht auch sonst Ärger ungern aus dem Weg, Sohn Nr. 2 dreht sein Fähnlein in jede erfolgsversprechende Richtung und lebt über seine Verhältnisse, Sohn Nr.3 weiß nichts mit seinem Leben anzufangen und die Tochter ist die Quotenlesbe, ohne die ein moderner Roman, der etwas auf sich hält, ungern auskommt. Dazu kommt noch ein großes Geheimnis, das den beiden Schwestern das Leben in weiten Teilen vergällt. Sie haben es schon nicht leicht, die Charaktere dieses Romans…
Beherrschendes Thema des Buches, das sich wie ein roter Faden durch alle Schicksale zieht, ist die familieneigene Unfähigkeit über Probleme zu reden und die daraus entstehenden Mißverständnisse und Unannehmlichkeiten.
Sullivan kann schreiben, ohne Frage. Und auch die Idee hinter dieser Geschichte ist wirklich vielversprechend. Leider ist die Ausführung dann aber weniger gelungen. Völlig überladen dümpelt das Ganze vor sich hin, die Protagonisten bleiben seltsam blass, und bisweilen ertappe ich mich beim Überfliegen der aufgezählten Irrungen. Nach Beenden des Romans bleiben viele Fragen offen. Das kann einen Leser dazu animieren, über wichtige Fragen des Lebens nachzudenken, eigene Lösungen zu finden…oder es kann den Eindruck erwecken, die Autorin hätte selbst ein wenig den Überblick verloren. Wenig überraschend tendiere ich zu letzterem.
Ein netter Unterhaltungsroman für Leser, die es schätzen, wenn die Personen im Buch deutlich mehr Probleme haben als sie selbst. Ansonsten leider eher belanglos.

Ich danke dem Deuticke Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Rezensionen zu diesem Roman findet ihr hier:

letteratura https://letteraturablog.wordpress.com/2018/02/05/entscheidung-mit-folgen-j-courtney-sullivan-all-die-jahre/

the lost art of keeping secrets https://thelostartofkeepingsecrets.wordpress.com/2018/02/09/all-die-jahre/

Puppet’s Leseblog https://puppetsleseblog.wordpress.com/2018/02/08/all-die-jahre-von-j-courtney-sullivan/

Die zauberhafte Welt der Coco Chanel

Coco Chanel von Megan Hess

Coco Chanel

Megan Hess

Übersetzung von Christine Schnappinger

erschienen 2017 im Prestel Verlag

ISBN 978-3-7913-8311-8

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Manchmal stelle ich fest, dass trotz meines nahezu biblischen Alters das „Ich muss das haben, jetzt und sofort“-Gen des Teenagers immer noch aktiv ist. Zuletzt deutlich gemerkt habe ich es bei diesem Buch. Der Anblick des Einbands verführte mich zu quietschigen kleinen Freudenrufen – und ich bin an sich eher nicht… quietschig. Gar nicht. Dann habe ich versucht, meinem erstaunt herbeigeeilten Ehemann zu erklären, dass wir dieses Buch doch sicherlich beruflich unbedingt brauchen. Zur Erklärung, wir führen eine Modeagentur und an sich sollte man sich da schon mit der Entwicklung und Geschichte von Mode auskennen. Er warf einen Blick darauf, grinste breit und meinte lapidar „nein“. Das hat ihm nicht geholfen, denn es liegt nun hier neben mir – aber warum eigentlich tatsächlich?

Es geht in diesem entzückenden Büchlein um Coco Chanel, ihr Leben, die Marke, die Legendenbildung. Dazu gibt es nichtssagende kleine Textchen, die natürlich weder besonders viel Information transportieren noch irgendwelche neuen Erkenntnisse zu Madame Chanel parat halten. Und die auch ganz bestimmt nicht der Grund sind, warum ich quietsche. Nein, der Grund sind die Illustrationen von Megan Hess. In den Chanelfarben schwarz, weiß, rot gehalten, zeichnet sich die Illustratorin Hess durch Coco Chanels Leben, von der Jugend im Waisenheim, über ihren Erfolg in Paris bis zur Etablierung der Marke Chanel. Und sie scheint dabei unglaublich viel Spass gehabt zu haben.
Megan Hess ist Modezeichnerin, arbeitet u.a. für Chanel, Dior und Yves Saint Laurent. Sie versteht es also, mit schnellen Strichen den Fall eines Kleides zu skizzieren oder eine Stickerei am Halseinsatz. Und ihr ist es gelungen, das unverkennbar Französische an Chanels Stil einzufangen, die Eleganz, das Besondere. So blättere ich also fröhlich von Seite zu Seite und erfreue mich an den Zeichnungen, qu… so für mich hin und bin glücklich. Manchmal muss es statt gehobener Literatur eben ein Blingbling-Buch für große Mädchen sein.

Ich danke dem Prestel Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Rezensionen zu diesem Buch findet ihr hier:

Rosie whispers https://rosiewhispers.com/2017/12/06/romeos-geschenkidee-coco-chanel/
Maxis Buchwelt https://maxisbuchwelt.wordpress.com/2017/07/21/coco-chanel-die-zauberhafte-welt-der-stil-ikone-von-megan-hess/
my imperfect life https://fairytalelivres.wordpress.com/2017/06/04/gelesen-coco-chanel-die-zauberhafte-welt-der-stil-ikone-von-megan-hess%e2%99%a5/
Bücherkompass https://buecherkompass.wordpress.com/2017/03/20/coco-chanel-megan-hess/

 

Väter und Töchter

Shylock von Howard Jacobson

Shylock

Howard Jacobson

Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence

erschienen 2016 im Knaus Verlag

ISBN 978-3-8135-0674-7

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„Shylock“ ist ein Band des Hogarth Shakespeare Projects, innerhalb dessen namhafte Autoren Shakespeare-Stücke neu interpretieren.
„Der Kaufmann von Venedig“ – keines von Shakespeares leicht zu fassenden Werken. Zu schablonenhaft allen Vorurteilen entsprechend ist die Figur des Shylock, des Geldverleihers und Zinsschacherers, zu hart geht er mit ihm ins Gericht. Und was treibt den jüdischen Schriftsteller Jacobson um, ausgerechnet dieses Stück zu wählen, wo es doch sicherlich einige andere Möglichkeiten gegeben hätte?

Wenn man alle Neben- und sonstigen Stränge beiseite lässt, geht es in Jacobsons Roman um Simon Strulovitch, der verhindern möchte, dass seine Tochter Beatrice einen Nicht-Juden heiratet. Unerwarteten Beistand erhält er von Shylock, dem er auf einem Friedhof begegnet.

Ein Buch über die jüdische Kultur und Weltsicht, zur Abwechslung mal von einem Juden geschrieben. Es geht um die Sicht der Christen auf das Judentum, um jüdischen Humor, um Traditionen und ihren Wert in der heutigen Zeit und um Selbstpositionierung zwischen alter und neuer Welt. Shylock ist dabei der zu Fleisch gewordene Geist des alten Judentums, im ständigen Zwiegespräch mit seiner verstorbenen Frau Leah; Shylock, der den Verlust seiner Tochter betrauert, ihren Verrat, und den kurzen Moment bereut, in dem er einmal ebenbürtig war, einmal Macht über die hatte, die ihn wegen seines Jüdisch Seins verachteten.
Strulovitch dagegen ist reicher und unabhängiger Kunsthändler, der nicht im Jüdisch Sein verhaftet sein möchte, aber zunehmend feststellt, dass es trotzdem so ist. Der darunter gelitten hat, dass sein Vater ihn verstoßen hat wegen der Heirat mit einer Nichtjüdin und trotzdem in Erwägung zieht, dasselbe seiner Tochter anzutun.

Jacobson zeigt uns den „Kaufmann von Venedig“ aus jüdischer Sicht, gibt dem Handeln Shylocks einen Sinn, gibt der Schablone einen Charakter. Und er beweist anhand von Strulovitch, wie sehr diese Schablonen auch heute noch greifen, wie die eigene Herkunft die Sicht der Anderen beeinflusst.

Für mich ist dieser Band der Hogarth Shakespeare Reihe der bisher anspruchvollste, aber auch der anstrengendste. Ein Band, in den man sich einlesen muss, dessen Inhalt dem Leser nicht einfach zufliegt. Ein Roman, der nachhallt und die eigenen Ansichten überdenken lässt, so man sich ihm denn öffnet. Das Buch eines offensichtlich sehr klugen und weltoffenen Menschen, der sich seiner Wurzeln sehr bewusst zu sein scheint und sich daran auch abarbeitet. Und eines Menschen, der versteht, dass Heimat da ist, wo man dieselbe Sorte Humor teilt…

Ich danke dem Knaus Verlag sehr herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Rezensionen zu diesem Buch findet ihr hier:

BritLitScout: https://britlitscout.wordpress.com/2017/10/01/shakespeares-shylock/
LiteraturReich: https://literaturreich.wordpress.com/2017/01/07/howard-jacobson-shylock/

Ein Hoch auf uns oder die Apotheose des Augenblicks

Heute gibt es wieder einen „Buchtipp zum Wochenende“, diesmal von http://dieartderida gratias.wordpress.com . Mehr zu diesem spannenden Blog erfahrt ihr weiter unten. Jetzt geht es erstmal zur Rezension von Patricia Hempels „Metrofolklore“:

Jung, ledig, lesbisch sucht… je nach Tagesform Sex, Drugs & überhaupt den Rock’n & Roll des Lebens, oder aber die Poesie der Hohen Minne. Denn…

„Der einzige Weg der Mühsal des Lebens zu begegnen, ist Hedonismus, der von Herzen kommt. Nur echte Sinnlichkeit schafft Freude und diejenigen, die wissen, wo sie zu finden ist haben eine Chance auf Glück, auch wenn es so flüchtig ist wie die Zeilen eines Gebets.“

Kluges Mädechen, die fast 28-Jährige Protagonistin. Berlinerin natürlich, und damit mit „Hip-ismus qua Geburt“ ausgestattet, am Busen, ausgesprochen gut gemachte Toyboy-Bojen, einer auch monetär erfolgreichen „in irgendwas mit Immobilien“-Karrierefrau, von Mikrowellenkost genährt. Sozialisiert in einem Kinderzimmer mit Blick auf die ewige Schlafstatt Dahingeschiedener, was dann in ein Studium, natürlich an einer dieser Konform-Ästheten ansprechenden Unis, der Vor- und Frühgeschichte mündet, in dem nan die Knochen längst Verstorbener aus der Erde puhlt, um sie dann in Plastik eingehüllt und in Kisten verstaut ins Kellerregal zu stellen.

Wenn die namenlose Ich-Erählerin mit einer „sensitive“ Zahnbürste hingebungsvoll Kloakenreste schrubbt, sinniert sie, intellektuell stimuliert durch Orvid’sche  Flirtratgebung oder Senecas Anmach-Alphabet, über die geeignete Taktik zur Verführung der Anbetungswürdigsten unter den anbetungswürdigen Frauen seit Helena von Troja, über ihre Kommilitonin, die schöne Helene nach, die nicht nur so verflucht hetero ist, sondern auch noch alle Vorabendserien Studentinnenklischee erfüllend ein Verhältnis mit dem verheirateten Uni-Dekan hat.

„Sollte ich jemals die Archäologin in mir überwinden und einen Roman schreiben, wird mein Debüt eine feurige Minne für Helene.“

Und so ist es. Alles in allem erzählt der Roman von ein paar Tagen im Leben der Minnesängerin. Ein bisschen Klatsch und Tratsch über das WG-Leben mit ihren zwei Mitbewohnern, ein schwuler Modedesign-Student und ihre beste Freundin, die zweite Klischee-Hete. Diese ganz spießig gesegnet mit einem Freund mit „shades of grey“-Ambitionen. Dazu kommen regelmäßige Beziehungsgespräche auch über potentielle Samenspender mit Anika, der durch Langzeitbeziehung nunmehr Unbegehrten mit tickender Gebärmutter. Zum Vergessen dieses heimischen Ungemachs ein bisschen Baggern, Graben und mehr in „lonely planet“-würdigen Berliner Szenebars und ihren Unisex-Toiletten. Dazwischen der Campus, mit seinen Sehnsuchtsorten für potentielle Begegnung mit „der Einen“ oder wenigstens ein paar ablenkende Schmachtblicke für sexy Erasmusstudentinnen in der Mensa, der Besuch peinlicher Motto-Geburtstagsparties und Stories über verlorene Berliner Hunde, denn der Bär war gestern…

Also Dies und Das, Irrungen und Wirrungen, natürlich eher handlungsarm, die Apotheose des Augenblicks…das Leben halt.

Netterweise liefert der Debut-Roman „Metrofolklore“ der Berliner Autorin Patricia Hempel, Jahrgang 1983, die nach einem Ur- und Frühgeschichtsstudiumam „place to be“, der europäischen Metropole schlechthin, zur Poesie, genauer zum Schreiben Lernen in die Provinz, nach Hildesheim, findet,Inhalts- und Figurenanalyse dem Leser gleich mit.

„Sie erzählt von einem belanglosenRoman, den sie gerade schreibt, in dem es viel um Sex und Drogen geht. Die Hauptfigur ist ein Versager, der von einer Krise in die nächste rennt.Klingt nach einer dieser Trash-Pop-Stories, von denen es genug gibt, aber ich bekunde: Toll, würde ich kaufen!“

Popliteratur wie aus dem Lehrbuch. Das gekonnte Archivieren von Belanglosigkeiten (M. Baßler), die unser Leben nun mal ausmachen. Die Wiederholung bekannter Begrifflichkeiten, Konsumgüter Name-dropping, Floskeln und Gedankenschnipsel aus dem Pool gemneinsamer Erinnerung. Ein Hoch auf uns.

Nicht allen gemein,, natürlich, aber der Masse des Populus. Sicher nicht unbedingt im Gedächtnis meiner Großmutter verankert, die würde nicht zwingend wissend nicken, wenn die Heldin sich über modische Hochs und Tiefs von Chucks ausläßt. Ironisches Lob in Form imaginärer Photoübergaben ließen ihr Fragezeichen in ihr altersweises Gesicht geschrieben stehen. Dass es den korrekten Ort und die korrekte Anzahl von Haarnadeln, die doch eigentlich pins heißen, für einen Metropolen-Dutt gibt, wäre jenseits der Vorstellungskraft meiner Nachbarin vis-a-vis, Mutter dreier Kinder mit Vollzeitjob. Von hashtag Listen, porn-tube Titeln und anderen Spielereien im Fließtext mal ganz abgesehen, aber ein Großteil der Leser*innen nickt bestimmt ertappt.

In diesem Roman geht es nicht um eine Befindlichkeitsanalyse. Er ist, was er ist. Keine Jagd nach verborgener Bedeutung ist notwendig, keine Tiefenbohrungen gefragt.Eine Millieustudie, die deshalb so treffend ist, weil die Autorin einfach nur draufhält, keine aufgesetzte Dramaturgie, keinen Spannungsbogen konzipiert. Das alles ist wirklich kein Defizit, sondern der Mehrwert dieses wunderbar ironischen Romans.

9783608503814

Metrofolklore

Patricia Hempel

erschienen 2017 im Tropen Verlag

ISBN 978-3-608-50381-4

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Mein Blog Die Art der Ida Gratias ist ein Hybrid, ein Kulinarik & Literatur Blog, benannt nach meiner Großmutter mütterlicherseits. Das ist die mit den temperamentvollen, italienischen Wurzeln und der lebenslangen Allergie gegen das Schlemmen und den Arbeiten, die dem meist voraus gehen. Diese Aversion scheint vererbbar zu sein, auch meine Mutter machte sich wenig daraus ihre Zeit mit Schälen, Schnippeln und Schaben zu verbringen. Ich hingegen als nächste in der Kette überkompensiere diesen genetischen Defekt. Motiviert durch den „Savoir Vivre“-Einfluss meiner Familie väterlicherseits, bin ich dem Genuss regelrecht verfallen.

Ich liebe es zu kochen, gerne als Wiederbelebung von Reiseerinnerungen, oder um mein Fernweh zu befriedigen. Die passende Musik aufgedreht, dazu ein Glas Wein… Ich gehöre auch zu den merkwürdigen Gestalten, die noch beim Essen schon wieder ans Kochen denken können. Ich genieße es stundenlang Kochbücher zu wälzen, habe ein Faible fürs Bekochtwerden durch professionelle Kochkünstler und nutze jede Gelegenheit auf Reisen Lebensmittelmärkte zu besuchen. Ich bin das, was man neudeutsch Foodie nennt; ich nenne mich Genießer.

Wenn ich nicht koche lese ich, ok, manchmal mache ich sogar beides gleichzeitig. Pastinaken schälen geht auch wunderbar, während man ein E-book liest, Topinambur etwas weniger gut. Und ja, auch ich spießige Papierliebhaberin verwehre mich nicht vollends der technischen Moderne.

Meine Liebe zur Literatur ist übrigens noch älter als die fürs Kochen. Als ich über die üblichen Jugendbücher hinaus war, habe ich erst einmal wie eine verfressene Raupe alles gelesen was mir an Literatur für die Erwachsenen unter die Finger kam. Wirklich alles, kein Buch war vor mir sicher, ob ich es verstanden habe, oder nicht.

Da gab es Puzos „Pate“ und Alcotts „Betty und ihre Schwestern“ mit 9 und Thomas Manns „Zauberberg“ und „Die kalifornische Sinfonie“ mit 10 Jahren. Die Wahllosigkeit hat sich mit den Jahren etwas gebessert.

Dann waren die Klassiker dran. Zuerst die Franzosen. Ich liebe die filmreifen Beschreibungen Zolas und mag die Landschaftsverbundenheit Maupassants. Ich genieße die Schwermut der Russen, vor allem Dostojewski, aber auch Tolstoi. Dann kamen die Briten. Ja, natürlich Jane Austen und die Bronte-Schwestern, und ich liebe E. M. Forster. Die Engländer befriedigen anscheinend die versteckte Romantikerin in mir.  Die Deutschen Klassiker kamen erst als Pflichtlektüre in der Schule dazu, aber da gibt es bis heute keinen, an dem mein Leserinnenherz wirklich hängt.

Eingependelt hat sich mein Geschmack dann zwischen dem Beginn des 20.Jahrhunderts und der Gegenwartsliteratur. Genremäßig mag ich Historische Romane, Sachbücher aus dem Bereich Politik, Geschichte & Kultur, Krimis und Thriller lese ich erst seit ich blogge und tue mich immer noch schwer, und vor allem das, was auf den Verlagsseiten einfach unter „Literatur“ zu finden ist. Geographisch bewege ich mich zwischen Europa, Nordamerika, Afrika & dem Arabischen Raum. Nur mit den Südamerikanischen Autoren bin ich nie so richtig warm geworden.

Damit mein Blog das auch stärker wiederspiegelt als bisher, lautet mein Blogger Vorsatz für 2018 nicht mehr bei jedem mir zur Rezension angebotenen Buch „hier“ zu rufen, sondern stärker vorab zu selektieren, bis jetzt klappt das ganz gut. Bei Patricia Hempels Debut hat sich das Rufen auf jeden Fall gelohnt, finde ich.

Hier findest Du mich:

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Engel im Sündenbabel

9783462051032

Der Mann, der nicht mitspielt

Christof Weigold

erschienen 2018 bei Kiepenheuer & Witsch

ISBN 978-3-462-05103-2

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„Ein netter kleiner Krimi über die Anfänge von Hollywood, warum nicht?“ dachte ich, als ich die Möglichkeit bekam „Der Mann der nicht mitspielt“ vor Erscheinungsdatum zu lesen. „Uff“ dachte ich, als das Buch dann hier ankam. Der nette kleine Krimi entpuppte sich als 640 Seiten schwer, mindestens 300 Seiten mehr als erwartet. Aber er ist jede Seite wert, um das gleich zu Anfang erwähnt zu haben.
Dem Glamour der Roaring Twenties entsprechend mit goldenem Einband und gleichfarbigem Lesebändchen ( Lesebändchen sind für mich wie die Kirsche auf dem Sahnehäubchen), dazu passend ein schwarzweiß gehaltener Schutzumschlag, kommt Christof Weigolds Romanerstling ganz gewiss nicht schüchtern daher, eher gekleidet für den großen Auftritt. Mit Auftritten kennt Weigold sich aus, schrieb er doch bisher Theaterstücke und Drehbücher.

Und worum geht es nun? Der Roman ist Auftakt einer Reihe über Skandale und Mordfälle im alten Hollywood, dem Hollywood der Stummfilmzeit.
Hardy Engel, deutscher Gelegenheitsschauspieler und ehemaliger Polizist, schlägt sich als Privatdetektiv durchs Leben. Als die schöne Pepper Murphy ihn beauftragt nach ihrer verschollenen Freundin Virginia zu suchen, schlittert er unversehens in den ersten großen Skandal der sich noch entwickelnden Filmindustrie und muss bald um sein Leben bangen.

James Stewart? Oder doch eher Humphrey Bogart? Beim Lesen des Romans hat man unwillkürlich eine mögliche Verfilmung vor Augen, besetzt mit den Stars des goldenen Filmzeitalters, das, zugegeben, ein Jahrzehnt später beginnt. Aber dieser Roman ist so sehr Hommage an die frühen Krimiverfilmungen, mit schweigsamen Ermittlern, die nur halb so „hardboiled“ sind wie gedacht und schönen Frauen, die ihnen das Leben schwer machen, dass man solche Überlegungen automatisch anstellt. Ich habe mich für Stewart entschieden, er entspricht am ehesten meiner Vorstellung von dem vom Leben gebeutelten Engel, der sich aber doch eine gewisse Ehrbarkeit erhalten hat.
Christof Weigold gelingt es hervorragend, seine Geschichte in die tatsächlichen Geschehnisse einzubinden und die Nahtstellen zu verwischen. Er lässt alte Hollywoodgrößen wieder aufleben, ohne dass es bei schlichtem Namedropping und Schablonengestalten bleibt, gibt ihnen Leben und einen Charakter. Vieles wirkt dabei sehr gut recherchiert, die Abläufe in den Studios, die Lebensläufe der „Gründerväter“- der Studiobosse, der exzessive Genuss von Alkohol und Koks und die Tatsache, dass die Studios selbst für die Drogen sorgten, um die Schauspieler bei Laune zu halten.
Aber vor allem ist dieser Krimi eines: nicht vorhersehbar. Trotz der schon erwähnten 640 Seiten ist nicht eine davon langweilig, habe ich nur höchst ungern Lesepausen eingelegt. Zu spannend ist die Geschichte, mit unerwarteten Wendungen und ihren Einblicken in eine vergangene Welt.

Für mich bisher die Krimi-Neuentdeckung des Jahres, ohne Wenn und Aber empfehlenswert. Bleibt nur die Frage, die mich schon seit Beendigung des Buches umtreibt: wann kommt der nächste Band?

Ich danke Kiepenheuer & Witsch herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Rezensionen zu diesem Buch findet ihr hier:

Sapadi https://sapadi.wordpress.com/2018/02/15/der-mann-der-nicht-mitspielt-hollywood-1921-hardy-engels-erster-fall-von-christof-weigold/

Lady Fox

Dame zu Fuchs von David Garnett

Dame zu Fuchs

David Garnett

übersetzt von Maja Hummitzsch

erschienen 2018 im btb-Verlag

ISBN 978-3-442-71557-2

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Der 1892 geborene David Garnett gehörte zur sogenannten Bloomsbury Group rund um Virginia Woolf, E.M. Forster und einige andere namhafte Autoren, Künstler und Wissenschaftler. Seine Buchhandlung Birrell & Garnett war zeitweise ein beliebter Treffpunkt für die Mitglieder dieses illustren Kreises.
„Dame zu Fuchs“, 1922 erschienen, war Garnetts erster schriftstellerischer Erfolg.

Die Tebricks sind ein frisch verheiratetes Ehepaar und wohnen gerade im ersten gemeinsamen Heim, als Lady Tebrick sich bei einem Spaziergang urplötzlich in eine Füchsin verwandelt.
Naturgemäß bringt eine solche Verwandlung Verwirrungen und Handlungsbedarf mit sich. Geheimhaltungsmaßnahmen werden getroffen, das Personal entlassen und so findet sich der verzweifelte Ehemann allein mit seiner Füchsin wieder, die immer mehr ihren nun tierischen Instinkten nachgibt.

Was man als puren Klamauk hätte inszenieren können, macht Garnett zu einer berührenden Geschichte über die Facetten der Liebe und gesellschaftliche Erwartungen. In urteilsfreiem, leichtem Plauderton erzählt er vom wachsenden Freiheitsdrang der Füchsin, den die Lady niemals offen hätte zeigen dürfen, von Jagdinstinkt und Essmanieren und davon, welche Veränderungen jemand aus Liebe, Einsamkeit und Verzweiflung bereit ist einzugehen, nahezu bis zur Selbstaufgabe.

Die Verwandlung selbst ist nicht der Schwerpunkt des Textes, sondern das, was sie nachfolgend auslöst. Es wird angedeutet, dass es so etwas in der Familie der Lady, gebürtige Fox, schon einmal gegeben haben könnte, beteuert, dass das Erzählte wahr und bewiesen ist und damit sind die Weichen gestellt, um sich auf die Folgen zu konzentrieren. Und die sind beträchtlich. Immer wieder die Frage: kann man jemanden zähmen und auf alte Charaktermerkmale festnageln? Wieviel Veränderung verträgt eine Ehe? Wieviel Freiheit sollte man bereit sein zu geben? Und darf man jemanden schützen, der den Schutz nicht wünscht?

Es freut mich sehr, dass diese feine Erzählung, in der großartigen Übersetzung von Maria Hummitzsch, ihren Weg wieder in die Buchläden findet. Es wäre wahrlich schade gewesen, wäre dieses Kleinod britischer Erzählkunst in Vergessenheit geraten.

Ich danke dem btb-Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

 

Weitere Rezensionen zu diesem Buch findet ihr hier:

Vanessas Bücherecke https://vanessasbuecherecke.wordpress.com/2018/01/09/garnett-david-dame-zu-fuchs/
World of tination https://booksoftination.wordpress.com/2018/01/25/david-garnett-dame-zu-fuchs/